Was geschieht da eigentlich? Die Zahl der Infizierten in Deutschland und in anderen Ländern steigt scheinbar sprunghaft. Täglich kommen Tauende neue Fälle hinzu. Virologen und Mathematiker sprechen von exponentiellem Wachstum. Dieses einzudämmen habe oberste Priorität. Was aber heißt das? Wie könnten sich die Zahlen entwickeln?
Prof. Dr. Edmund Weitz lehrt an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) Mathematik und Informatik. Die HAW ist die zweitgrößte Hochschule in Hamburg und die drittgrößte Fachhochschule in Deutschland. Weitz ist kein Virologe. Seine Welt sind die Zahlen. Auf seinem Youtube-Kanal versucht er Nicht-Mathematikern diese Welt näher zu bringen. DER AKTIONÄR sprach mit ihm über exponentielles Wachstum.
Herr Professor, Regierungsvertreter und Virologen warnen vor der exponentiellen Entwicklung bei der Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland und anderswo. Exponentielles Wachstum ist für die meisten Menschen schwer greifbar. Sie sind Mathematiker. Für Sie sind solche Begriffe und die Funktionen dahinter Ihr "täglich Brot". Warum ist es für die meisten Menschen so schwierig sich vorzustellen, was sich dahinter verbirgt?
Es gibt außer exponentiellem Wachstum auch andere Phänomene, mit denen Wissenschaftler täglich zu tun haben, die wir Menschen uns aber nur schwer vorstellen können. Insbesondere Physiker werden Ihnen das bestätigen können. Ich glaube, unser diesbezügliches Unvermögen ist damit zu erklären, dass wir von der Evolution mit Gehirnen ausgestattet wurden, die mit unserer unmittelbaren Umwelt umgehen können –was ja auch sinnvoll ist. Im täglichen Leben eines Menschen vor ein paar Tausend Jahren gab es aber kein exponentielles Wachstum zu beobachten und seitdem dürfte sich unsere Gehirnstruktur nicht wesentlich verändert haben. Es ist auch ein Irrtum zu glauben, dass Mathematiker und Naturwissenschaftler sich so etwas unbedingt besser vorstellen können als "normale" Menschen. Sie haben nur gelernt, damit zu arbeiten.
Können Sie ein Beispiel aus der Wirtschaft für exponentielles Wachstum nennen?
Das klassische Beispiel ist Zinseszins. Wenn Sie die Zinsen auf einem Sparkonto liegen lassen und die wiederum verzinst werden, dann liegt exponentielles Wachstum vor. Hätten Sie rein hypothetisch seit Christi Geburt jedes Jahr 1.000 Euro geschenkt bekommen, dann hätten Sie heute, nach mehr als 2000 Jahren, etwas mehr als zwei Millionen. Hätten Sie aber vor 2020 Jahren einen einzigen Euro zu einem Prozent Zinsen angelegt und Ihr Guthaben seitdem nicht mehr angerührt, so hätten Sie heute mehr als 500 Millionen! Entscheidend ist hier, dass Ihr Startkapital in jedem Jahr mit 1,01 multipliziert wird und dass dieser Faktor größer als eins ist.
Es wird immer davon gesprochen, bei den ergriffenen Maßnahmen wie Versammlungsverbot, häusliche Quarantäne und Ausgangsbeschränkungen ginge es darum, die Ausbreitung einzudämmen, nicht sie zu stoppen. Man wolle Zeit gewinnen. Was passiert, wenn man das Wachstum drosselt?
Das hängt davon ab, wie stark man das Wachstum drosselt. Exponentielles Wachstum liegt bei einer ansteckenden Krankheit dann vor, wenn im Durchschnitt jeder Kranke mehr als eine gesunde Person ansteckt. Dafür reicht es schon, wenn dieser Wert nur sehr knapp über eins liegt, zum Beispiel bei 1,05. Wenn man es durch entsprechende Maßnahmen tatsächlich schaffen würde, diese Ansteckungsrate unter eins zu drücken, dann läge zumindest kein exponentielles Wachstum mehr vor.
Verschiebt sich die Kurve nicht einfach nur nach hinten?
Wenn man es schafft, die Ansteckungsrate zu drosseln, ohne dass sie unter den "magischen Wert" eins fällt, dann liegt zwar immer noch exponentielles Wachstum vor, aber die Kurve verschiebt sich nicht einfach nur nach hinten, sondern der ganze Prozess läuft langsamer ab. Wenn sich beispielsweise die Anzahl der Fälle alle drei Tage verdoppelt, dann wird sie sich nach 30 Tagen – also einem Monat – vertausendfacht haben. Wenn sie sich aber nur alle sieben Tage verdoppelt, dann wird sie nach einem Monat "nur" etwa zwanzig Mal so groß sein.
Ab wann sinkt die Kurve?
Die Kurve kann einerseits sinken, wenn man es – siehe oben – schafft, die Ansteckungsrate deutlich zu senken. Nach dem, was man den Medien entnehmen kann, scheint das in China gelungen zu sein. Andererseits sinkt die Zahl der neuen Fälle natürlich auch dann, wenn viele Leute bereits infiziert sind – unter der Voraussetzung, dass man nach überstandener Erkrankung immun ist. Dieses Phänomen wird in einer stark vereinfachten Variante mit dem sogenannten "logistischen Wachstum" beschrieben: In der Anfangsphase liegt fast ungebremstes exponentielles Wachstum vor, das aber nach und nach abflacht, wenn immer mehr Menschen immun sind.
Im Falle einer Pandemie stößt selbst exponentielles Wachstum irgendwann an seine Grenzen. Irgendwann ist schlicht einfach jeder infiziert. Würde man nichts zur Eindämmung unternehmen, und auch keinen Impfstoff finden. Wann wäre dieser Zeitpunkt in Deutschland erreicht?
Dafür müsste man unter anderem wissen, wie viele Menschen zur Zeit bereits infiziert sind. Das werden deutlich mehr als die getesteten und bestätigten Fälle sein. Man müsste die tatsächliche Ansteckungsrate – die sogenannte Basisreproduktionszahl – ohne Eindämmungsmaßnahmen kennen. Und man müsste so tun, als könne man Deutschland isoliert vom Rest der Welt betrachten, ohne heimkehrende Urlauber, Warenverkehr, etc. Und selbst dann wären die Wachstumsmodelle, die ich hier beschrieben habe, zu simpel, um eine seriöse Antwort zu geben.
Stand heute haben wir – laut Robert Koch-Institut – 18.160 bestätigte Fälle in Deutschland. Täglich kommen einige Tausend hinzu. Wenn die Kurve weiter ihren Lauf nimmt wie in den vergangenen Tagen, wie viele Fälle werden wir in einer Woche (29.3.) haben? Wie viele in zwei Wochen?
Die Datenlage ist auch hier zu volatil, um eine halbwegs gesicherte Prognose abzugeben. Außerdem habe ich auch nur Zugriff auf die im Internet einsehbaren Zahlen. Ich kann daher lediglich mit einer "Wenn-Dann-Antwort" aufwarten: Wenn sich die Anzahl der bestätigten Fälle täglich um 30 Prozent erhöht, wonach es in den letzten Tagen aussah, dann werden aus 18.000 Fällen in sieben Tagen etwa 110.000 und in vierzehn Tagen circa 700.000. Vielleicht haben aber die Maßnahmen der letzten Tage schon etwas bewirkt – den Effekt sieht man ja in der Statistik erst mit einer deutlichen Verzögerung. Steigt die Anzahl der Fälle zum Beispiel nur noch um zehn Prozent pro Tag, so müssten wir nach zwei Wochen "nur" noch mit knapp 70.000 bestätigten Fällen rechnen. Das wäre aber immer noch mehr als heute (22.03.) in Italien!