Selten war die Spannung so groß wie vor der Zinssitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) an diesem Donnerstag. Sowohl unter Fachleuten als auch an den Finanzmärkten ist man sich alles andere als einig, wie sich die Notenbanker entscheiden werden. Setzen sie ihren Inflationskampf mit einer weiteren Anhebung der Leitzinsen fort - oder halten sie erstmals seit Beginn der Zinsstraffung im Sommer 2022 still?
Von den Notenbankexperten, die die Nachrichtenagentur Bloomberg befragt hat, rechnet eine knappe Mehrheit mit einer Zinspause. An den Märkten deuten die Preise spezieller Finanzkontrakte auf eine Wahrscheinlichkeit von etwa 50 Prozent hin, dass die EZB stillhält. Mit anderen Worten: An den Börsen ist weder eine weitere Zinsanhebung noch ein Festhalten am aktuellen Zinsniveau vollständig eingepreist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass spürbare Marktreaktionen wahrscheinlich sind.
„Die EZB überrascht in jedem Fall“, bringt es Commerzbank-Expertin Esther Reichelt auf den Punkt. Seit Sommer 2022 haben die Währungshüter um Präsidentin Christine Lagarde ihren Leitzins neun Mal um insgesamt 4,25 Prozentpunkte angehoben. Der seit langem entscheidende Einlagensatz beträgt 3,75 Prozent, der weniger wichtige Hauptrefinanzierungszins liegt bei 4,25 Prozent.
Die Entscheidung für oder gegen eine Zinspause dürfte im Wesentlichen von einer Gewichtung der Wachstums- und Inflationsrisiken abhängen. Konkret: Wiegt in den Augen des EZB-Rats die sich eintrübende Konjunkturlage so schwer, dass eine weitere Zinsstraffung mehr schadet als hilft? Oder sieht der Rat die Notwendigkeit, gegen die nur zögerlich sinkende Inflation mit einer abermaligen Zinsanhebung vorzugehen?
„Wir gehen davon aus, dass die Entscheidung sehr knapp ausfallen wird“, sagt Jill Hirzel, Anlageexpertin vom Vermögensverwalter Insight Investment. Die wahrscheinlichsten Szenarien sind aus ihrer Sicht entweder eine Zinspause mit dem Versuch, auf eine künftige Straffung hinzuweisen. Alternativ könnte eine Zinserhöhung um 0,25 Prozentpunkte vorgenommen werden, allerdings begleitet von einem neutraleren Ton.
Eine andere Möglichkeit bringen Hugo Le Damany und Francois Cabau von AXA Investment Managers ins Spiel: Falls keine Zinserhöhung erfolgen sollte, könnte der Rat als Kompromiss die Aussicht auf eine beschleunigte Reduzierung der EZB-Bilanz vorziehen, meinen die Ökonomen. Im Juli hatte die EZB die Wiederanlage fälliger Anlagebeträge aus ihrem Wertpapierprogramm APP beendet. Zusammen mit dem Auslaufen langfristiger Kredithilfen (TLTROs) ist die Bilanz der EZB seit vergangenem September um etwa 1,6 Billionen Euro auf aktuell rund 7,2 Billionen Euro gesunken. Das ist jedoch immer noch viel mehr, als vor den Krisen der vergangenen Jahre üblich war.