LONDON/BRÜSSEL (dpa-AFX) - Online-Kunden schauen verdutzt auf hohe Zusatzkosten bei Paketen aus Großbritannien, Unternehmer beklagen neue Bürokratie: Auch wenn beim Brexit zum Jahreswechsel der große Knall vermieden wurde, läuft längst nicht alles reibungslos. "Kinderkrankheiten" nennt das der britische Premierminister Boris Johnson. Doch EU-Unterhändler Michel Barnier widerspricht. Es gebe einfach "unvermeidbare Konsequenzen, wenn man den Binnenmarkt verlässt", sagte der Franzose der "Financial Times" vom Donnerstag.
Zu diesen Konsequenzen gehörten in den vergangenen Tagen: Konfiszierte Schinkenstullen eines Brummifahrers durch den niederländischen Zoll. Leere Supermarktregale in Nordirland. Ein Annahmestopp der Bahntochter Schenker für Sendungen nach Großbritannien und viele Unternehmen, die das Geschäft mit der Insel vorerst sein lassen. Verzweifelte Musiker, die nicht mehr so wie bisher reisen können. Und das sind nur Facetten eines Wimmelbilds, das zwei Wochen nach dem endgültigen Bruch Großbritanniens mit der Europäischen Union nur wenige ganz überblicken.
Beide Seiten hatten an Heiligabend doch noch ein Handelsabkommen geschlossen - in letzter Minute vor dem Ausscheiden Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion zum 31. Dezember. "Das Abkommen wurde in der Wirtschaft sehr begrüßt, weil es keine Zölle und keine Mengenbegrenzungen gibt", sagt Berthold Busch, Ökonom am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. "Es ist eine bessere Situation als bei einem No Deal." Einige der Schwierigkeiten seien tatsächlich Kinderkrankheiten, da habe Johnson recht. Doch stimme auch Barniers Einschätzung: "Es wird nicht mehr der Zustand sein, als wäre Großbritannien im Binnenmarkt und in der Zollunion."
Das hätten alle gewusst, sagt Busch. Und doch kam manches in den ersten Tagen eben doch überraschend:
ZOLLFREI - DAS GILT NICHT IMMER
Trotz Handelspakts gibt es Zölle, darauf weist unter anderem die Unternehmensberatung BDO hin. Das gilt dann, wenn Waren aus Großbritannien nicht britisch sind - zum Beispiel bei in Asien produzierte und über britische Händler vertriebene Kleidung. Das Stichwort heißt Ursprungsregeln. Zu möglichen Zöllen kommt zudem Einfuhrumsatzsteuer. Für Importeure kann das teuer werden. Die britische Online-Modeplattform Asos erwartet Zusatzkosten von rund 15 Millionen Pfund (fast 17 Millionen Euro) für das laufende Geschäftsjahr. BDO-Expertin Grit Köthe berät Firmen bei den neuen Formalitäten und weiß: "Die Unternehmen sind dabei, die Lieferketten zu überprüfen."
Aber das Thema trifft auch Verbraucher im Online-Handel. Wer über das Internet in Großbritannien bestelle, überblicke oft nicht, ob die Ware vielleicht in China produziert worden sei, sagt Linn Selle vom Verbraucherzentrale Bundesverband in Berlin. Einfuhrumsatzsteuer werde ab einem Warenwert von 22 Euro fällig, Zoll ab 150 Euro. Verbraucher stünden dann vor einer "fetten Nachzahlung", weiß Selle. Die Verbraucherschützerin rät deshalb: "Man sollte sich bewusst sein, dass zusätzliche Kosten entstehen können, und lieber einmal mehr nachfragen."
DAS PROBLEM MIT DEN LEBENSMITTEL-KONTROLLEN
Bei Lebensmitteln werden neuerdings eingehende Kontrollen auf Verbraucher- und Hygienestandards nötig, vor allem zum Seuchenschutz. Dem fielen die Schinkenbrote des britischen Lastwagenfahrers zum Opfer. Aber das verzögert auch Lieferketten. In Großbritannien trifft das vor allem die Provinz Nordirland, für die zur Vermeidung einer Grenze mit Irland Sonderregeln gelten. Dort blieben zu Jahresbeginn Supermarktregale leer, obwohl bis März noch eine Übergangsphase mit vereinfachten Kontrollen gilt. Die Chefs der Supermarktketten Tesco
Probleme erleben schon jetzt schottische und walisische Fischer, die darauf angewiesen sind, dass ihr Fanggut frisch auf dem Kontinent ankommt. Stattdessen stand eine walisische Fischerin mit ihren Meeresfrüchten laut BBC 30 Stunden lang im Stau - und will nun vorerst keine Fahrten mehr antreten. Auch das dänische Fährunternehmen DFDS setzte die Beförderung von gruppierter Fracht mehrerer Anbieter zeitweise aus und warnte vor Verzögerungen.
MUSIKER MIT VISAPFLICHT?
Als Band monatelang durch Europa touren, wird nach dem Brexit schwierig. Um sich länger im EU-Ausland aufzuhalten und dort zu arbeiten, sind nun spezielle Erlaubnisse notwendig, sogar für das musikalische Equipment - und damit bürokratischer und finanzieller Aufwand. Die Briten und die EU schieben sich gegenseitig die Schuld dafür in die Schuhe, keine großzügigeren Regeln gefunden zu haben. In einer Petition fordern britische Musikerinnen und Musiker wie Laura Marling, Dua Lipa und die Band Biffy Clyro eine "freie kulturelle Arbeitserlaubnis", die Tourneen in EU-Ländern ermöglicht. Hunderttausende haben bereits unterschrieben.
Unterm Strich verursacht der Brexit auch mit dem Handelsabkommen Aufwand, Bürokratie und Kosten. Das dürfte Exporte bremsen. So rechnete am Donnerstag eine Studie des Kreditversicherers Euler Hermes vor, dass Exporteure in Großbritannien Einbußen in einem Volumen von 12 bis 25 Milliarden Pfund (13,5 bis 28,1 Mrd Euro) zu erwarten hätten. Als Gründe nennt die Studie eine schwache Nachfrage, Bürokratie und die Abwertung des britischen Pfund./vsr/DP/fba
Quelle: dpa-AFX