Der Wirecard-Betrugsskandal zieht immer größere Kreise. Freitag dieser Woche könnte die Befragung von EY durch den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss neue Erkenntnisse bringen. Auch und insbesondere mit Blick auf die Rolle des zuletzt immer stärker in Bedrängnis geratenen Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Ein Kommentar.
Rücktritt als letzte Konsequenz: BaFin-Chef Felix Hufeld hat seinen Hut genommen. Seine Vize Elisabeth Roegele ebenfalls. Edgar Ernst, Präsident der Bilanzkontrollstelle DPR: weg. Der Vertrag zwischen BaFin und DPR: gekündigt. Hubert Barth, Deutschlandchef der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY: zurückgetreten. Die stetig länger werdende Liste der Rücktritte als Folge der Ergebnisse des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zur Causa Wirecard darf eines jedoch nicht: darüber hinwegtäuschen, dass das Kontrollversagen kollektiv gewesen ist. Und dass das Versagen oben beginnt, mitunter noch weiter oben, als es der Anschein, es wären bereits führende Köpfe gerollt, vermitteln könnte.
Als Minister im Bundesfinanzministerium (BMF) ist der Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, Herr über die BaFin. Als solcher sind ihm die Versäumnisse dort mittelbar zuzurechnen, die politische Verantwortung ohnehin. Doch auch Vorgänge im Ministerium selbst irritieren. So ist als höchst fragwürdig einzustufen, dass Staatssekretär Jörg Kukies am 23. Juni 2020 zum Telefonhörer griff, um die Nummer von Klaus Michalak zu wählen. Der Chef der KfW-Bankentochter IPEX sollte Teil einer „deutschen Lösung“ für Wirecard sein, frisches Geld in den in Schieflage geratenen Zahlungsdienstleister pumpen. Bemerkenswert daran ist nicht nur der Umstand, dass das BMF hier offenbar bereitwillig Steuergelder aufs Spiel setzen wollte. Bemerkenswert ist vor allem der Zeitpunkt: Tags zuvor, am 22. Juni 2020, hatte Wirecard per Ad-hoc-Mitteilung wissen lassen, „dass die bisher zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen“. Am 25. Juni schließlich stellte der Vorstand des Unternehmens den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Ende, aus.
Wäre Jörg Kukies ein Beamter ohne Kapitalmarkterfahrung, könnte man über dieses Telefongespräch vielleicht einfach nur den Kopf schütteln, die Stirn runzeln und denken: „Na ja, war nicht anders zu erwarten.“ Doch ehe Olaf Scholz Kukies als Staatssekretär ins Bundesfinanzministerium holte, war dieser Co-Vorsitzender von Goldman Sachs Deutschland. Im Ministerium ist der 53-Jährige zuständig für die Themen Europa und Finanzmarkt. Er ist Profi, nicht Amateur. Was zwangsläufig zu der Frage führt: Wie kann es sein, dass bei so viel Kompetenz – zumal in Union mit dem selbst ernannten „wirtschaftskompetentesten Kanzlerkandidaten aller Zeiten“ – eine derart offensichtliche Fehleinschätzung das Resultat der Überlegungen ist? Ferner: Weshalb hat das BMF den PUA nicht bereits früher unter anderem über dieses Telefonat mit der IPEX, in dessen Aufsichtsrat Kukies sitzt, informiert? Schließlich heißt es auf der Website des BMF wörtlich: „Das BMF treibt die transparente und lückenlose Aufklärung (...) entschlossen voran.“ Transparent? Lückenlos? Entschlossen?
Gemeinhin heißt es: Der Fisch stinkt vom Kopf her. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Fisch das Antlitz des obersten Machthabers im BMF trägt. Und der Ruf nach Konsequenzen erschallt angesichts der vielen Fehltritte viel zu leise.
Dieses Editorial ist in DER AKTIONÄR Nr. 12/2021 erschienen, welche Sie hier als PDF gesamt herunterladen können.