Ein Gespräch mit Nobelpreisträger Robert J. Shiller über das Coronavirus, Aktienmärkte und die Macht der Erzählungen.
Ab dem 16. März ist Robert J. Shillers neues Buch „Narrative Wirtschaft“ in Deutschland erhältlich. Darin dreht sich alles um die Kraft von Geschichten, die mutieren und sich wie ein Virus verbreiten können. Einen passenderen Zeitpunkt für ein Interview mit dem Experten, der die New-Economy-Blase und die Krise am Häusermarkt vorhersah, könnte es also kaum geben.
DER AKTIONÄR: Professor Shiller, erleben wir gerade den Anfang vom Ende oder bietet sich nur einmal mehr eine Kaufchance?
Robert J. Shiller: „Anfang vom Ende“ klingt ein bisschen hart. Pandemien haben wir früher schon erlebt. Das kann qualvoll sein, aber deswegen geht die Welt nicht unter.
Anfang des Jahres haben Sie auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt, der nächste Crash könnte massiv sein. Sie haben aber auch gesagt, dass Sie keine Anzeichen für einen Crash sehen. Hat sich das geändert?
Ja. Es besteht jetzt die Chance, dass es zu einem Crash kommt. Wir haben bereits einen Rückgang um fast 20 Prozent erlebt. Das könnte so weitergehen. Es entsteht eine beängstigende Situation, die den Markt psychologisch beeinflussen könnte.
Der berühmte Hedgefonds-Manager Ray Dalio spricht inzwischen von einer Katastrophe, wie sie nur einmal im Jahrhundert vorkommt ...
In seiner Plötzlichkeit und Intensität handelt es sich tatsächlich um ein Jahrhundertereignis. Zuletzt gab es etwas Vergleichbares mit der Grippe 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs. Damals lag der Fokus nicht so sehr auf der Epidemie, weil beim Ausbruch der Krieg noch nicht zu Ende war. Es ist schwierig zu sagen, wie sich die Sache entwickeln wird, weil Ereignisse dieser Größenordnung ziemlich selten sind.
Was glauben Sie, was passieren wird?
Ich weiß es nicht. Um das einzuschätzen, müsste man den Verlauf der Epidemie sowie die Entwicklung der Märkte vorhersagen. Ich würde sagen, wir erleben in dieser Hinsicht eine Co-Epidemie. Das ist ein Begriff, den Epidemiologen verwenden, wenn zwei Krankheiten miteinander interagieren und sich gegenseitig verstärken. Wir erleben also eine Epidemie der Krankheit und eine Epidemie der Angst vor der Krankheit. Diese Angst bezieht sich nicht nur auf die Krankheit selbst, sondern ist auch eine Angst vor Chaos, ein Vertrauensverlust, weil unsere Regierungen und Institutionen uns nicht vor dieser Krise beschützen konnten.
„Es besteht Jetzt die Chance, dass es zu einem Crash kommt.“
Wobei die Frage im Raum steht, ob es sich nur um eine andere Art von Grippe handelt oder die Lage wirklich so schlimm ist, dass sich ganze Staaten voneinander abschirmen sollten …
Niemand weiß genau, wie viele Menschen an der Grippe 1918 gestorben sind. Weltweit könnten es etwa 50 Millionen gewesen sein. Das sind bei Weitem mehr als im Ersten Weltkrieg. Hoffen wir, dass es diesmal nicht so weit kommt. Aber wir wissen es nicht. Die Todesrate ist nicht so hoch, aber das Coronavirus ist sehr ansteckend. Die Übertragung erfolgt, bevor sich Symptome zeigen. Das erschwert eine effektive Quarantäne. Wir stehen also potenziell vor einer großen Krise.
Sie nehmen wahrscheinlich nicht an, dass ein entsprechendes Szenario mit dem Rückgang um 20 Prozent bereits eingepreist ist?
Das ist schwer zu sagen. 1918 hat die Grippe den Aktienmarkt zunächst nicht sonderlich beeinflusst. Der Markt fiel erst später, es gab eine Rezession. 1920/1921 gab es eine weitere Rezession. Das hatte nach Ansicht der meisten Leute aber nichts mit der Grippe zu tun. Diesmal reagiert der Aktienmarkt sehr stark auf die Corona-Epidemie. Das ist neu. Wie es weitergeht, hängt auch davon ab, wie sich das Epidemie-Narrativ entwickelt. Momentan jagt es den Menschen ziemliche Angst ein. Aber es könnte ihnen noch mehr Angst einjagen, falls deutlich mehr Menschen sterben.
Wird es dazu kommen?
Das wäre möglich. Es tut mir leid, dass ich keine bessere Vorhersage anbieten kann. Wir haben es mit großen Unbekannten zu tun. Wir können nicht einmal die Epidemie an sich gut vorhersagen. Epidemiologen stehen vor dem Problem, dass sich die Infektionsrate ändern kann. Die Genesungsrate kann sich verändern. Die Krankheit mutiert.
Unabhängig vom Coronavirus: Sie warnen bereits seit Jahren, dass Aktien überbewertet sind. Wir hatten den Brexit, den Handelskrieg, die Proteste in Hongkong. Der Markt ist dabei fast immer nur leicht abgetaucht, bevor er wieder nach oben gekauft wurde. Jetzt haben wir diesen 20-prozentigen Rückschlag erlebt. Ihrer Meinung nach handelt es sich bislang nur um eine gewisse Normalisierung nach der Euphorie, oder?
Richtig. Das zyklisch bereinigte Kurs-Gewinn-Verhältnis (auch bekannt als Shiller-KGV – Anm. d. Red.), das ich verwende, um zu bestimmen, wie hoch der Markt bewertet ist, war in den USA sehr hoch. Jetzt ist es noch hoch. Der Markt könnte weiter fallen.
Nach dem Ausbruch in China haben wir zunächst neue Allzeithochs gesehen, bevor ein extrem schneller Einbruch folgte. Auch das ist praktisch einzigartig …
Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich derzeit immens auf das Coronavirus. Es wird andauernd darüber geredet. In dieser Situation denken die Menschen: „Ich könnte wirklich daran sterben!“ Das mag unwahrscheinlich sein. Aber dieses Narrativ ist stark genug geworden, um in den Menschen diese Todesangst hervorzurufen.
Es gibt noch ein weiteres Narrativ: Der Ölmarkt ist eingebrochen. Die großen Ölstaaten messen gerade ihre Kräfte. Unternehmen aus der Branche könnten in die Pleite rutschen, ihre Anleihen ausfallen – und Finanzinstitute dadurch wiederum in Schwierigkeiten geraten, weil sie zu viele Ramschanleihen gekauft haben, um wenigstens noch etwas Rendite auf ihr Kapital zu erhalten. Könnte das Coronavirus nur der Beginn einer Kettenreaktion sein, wenn es schlecht läuft?
Ich hasse es, immer der Untergangsprophet zu sein, aber ich denke, das wäre möglich. Besonders, weil die Menschen dazu neigen, an die letzte Krise zu denken. In den Vereinigten Staaten sind sowohl die Preise am Häusermarkt als auch für Aktien auf Rekordhochs geklettert. Insofern haben wir eine gewisse Euphorie gesehen. Jetzt gibt es schlechte Nachrichten, die dazu führen können, dass sich die Stimmung komplett dreht. Die letzte Krise lauert noch in unserem Unterbewusstsein.
Wobei die jüngste Rallye von einigen Marktbeobachtern als die meistgehasste aller Zeiten bezeichneten wurde. Die steigenden Märkte wurden mit einer gewissen Skepsis beobachtet …
Ja, ich hätte wahrscheinlich nicht das Wort Euphorie benutzen sollen. Richtige Euphorie hat zuletzt zum Höhepunkt der Dotcom-Blase im Jahr 2000 geführt. Ein neues Jahrtausend hatte begonnen, das Internet war völlig neu und die Menschen dachten, es würde alles verändern. Die Menschen waren optimistisch. Beim jüngsten Anstieg haben Donald Trump und die weltweite Hinwendung zum Populismus sicherlich eine Rolle gespielt. Gleichzeitig gab es die Sorge, dass die Märkte überbewertet sind. Die Coronavirus-Geschichte könnte nun dazu beitragen, diese Sorge argumentativ zu untermauern und in ein mächtiges Narrativ zu verwandeln.
„Die Menschen leben derzeit mit einem Gefühl wie zu Kriegszeiten.“
Außerdem könnte es die Wall Street deprimieren, falls ein demokratischer Kandidat in den USA die Wahl zum Präsidenten gewinnt …
Wir haben Wahlen, ein Virus und diese ganzen anderen Narrative – alle zur selben Zeit. Deswegen ist eine Vorhersage so schwierig. Aber ich glaube, momentan passiert etwas. Es herrscht ein Gefühl der Angst, echter Angst. Wenn Leute in Läden kaum noch Waren finden und alle Schutzmasken tragen, vermittelt das den Eindruck, dass etwas nicht stimmt. Das erzeugt eine Dysphorie. Wir könnten also diesmal das Gegenteil von Euphorie erleben.
Was ist mit dem Narrativ, dass Quantitative Easing, also eine geldpolitische Lockerung, den Markt einmal mehr retten wird?
Zentralbanken können die Zinsen kaum noch senken, also wird es wohl zu Quantitative Easing kommen. Die Frage ist, wie gut dieses Mittel diesmal wirken wird. Es ändert nichts an dem grundsätzlichen Problem, dass die Menschen verängstigt sind. Sie haben Angst, zu sterben. Die Menschen leben derzeit mit einem Gefühl wie zu Kriegszeiten.
Sie haben neulich schon angedeutet, dass ein bisschen Quantitative Easing diesmal vielleicht nicht genügen wird, um die Märkte zu beruhigen, und daher für kreative Lösungen plädiert. Also: Minuszinsen wie in der EU, Helikopter-Geld wie in Hongkong oder Aktienkäufe wie durch die Notenbank in Japan?
Einiges davon könnten nützlich sein. Es wird aber auch auf das Narrativ dazu ankommen, wie diese Maßnahmen verkauft werden. Hilfreich wäre, wenn die Zentralbanker dieser Welt eine Art gemeinsame Front bilden würden, wie sie es zu Beginn der Krise 2008 getan haben. Damals haben wir Zusammenarbeit auf internationaler Ebene gesehen. Man muss verstehen, was die Menschen wollen und fühlen. Es geht auch ein bisschen um Show. Ich weiß aber nicht, ob wir zu diesem Zeitpunkt der Geschichte eine globale Rezession verhindern können.
Wobei es in China so aussieht, als würde sich die Lage beruhigen. Das könnte in drei bis sechs Monaten auch im Rest der Welt der Fall sein …
Möglich wäre es. Wir haben es allerdings mit einer weltweiten Pandemie zu tun, die mit all unseren Institutionen und Narrativen interagiert. In dieser Situation sollten die Menschen davor gewarnt werden, übermütig zu werden. Einige glauben vielleicht, dass sie es gerade mit einer wunderbaren Kaufgelegenheit zu tun haben. Vielleicht stimmt das auch. Ich würde aber nicht meine gesamten Ersparnisse darauf setzen.
Würden Sie zumindest ein paar Aktien kaufen?
Aktien sind Teil eines diversifizierten Portfolios. Also würde ich nicht zu einem kompletten Ausstieg raten. Ich bin im S&P 500 investiert, aber ich bin nicht so optimistisch wie die meisten Leute.
Kaufen Sie persönlich Anleihen, wenn Sie dafür keine Zinsen bekommen?
Ich würde mein Portfolio nicht als Vorbild heranziehen, aber ich habe keine langlaufenden Anleihen. Ich habe Bargeld, Immobilien und Rohstoffe. Diversifikation zählt zu den Grundlektionen der Finanzwissenschaft.
Privatanlegern wird oft vorgeworfen, sie würden sich zu sehr von ihren Emotionen leiten lassen. Sie betonen in Ihrem neuen Buch, die Macht von Erzählungen sollte nicht unterschätzt werden. Diese Erzählungen können aber sehr starke Emotionen auslösen. Geht es Ihnen darum, sich dieser Emotionen bewusst zu sein und sie für den eigenen Handel zu nutzen?
Richtig, ich bin weniger für „Buy and Hold“ als die meisten anderen Experten. Wäre ich zum jetzigen Zeitpunkt sehr stark am Markt investiert, würde ich mich etwas zurückziehen.
Sie würden selbst jetzt noch verkaufen, weil in dieser Situation das Risiko den potenziellen Gewinn übersteigt?
Ja. Ich will aber keine Extremposition einnehmen, weil alles auf Ahnungen und Vermutungen basiert. Ich hielte es für gefährlich, jetzt zum Beispiel den Anleihemarkt leerzuverkaufen und gehebelt in den Aktienmarkt einzusteigen.
Würden Sie kaufen, falls der Markt jetzt noch einmal 20, 30 Prozent fallen würde?
2002, als der Markt am Boden war, hatte ich meine Aktienquote ziemlich heruntergefahren. Aber ich weiß nicht, wie man den Markt genau timt. Es ist schwer und viele Menschen sollten sich nicht so viel damit beschäftigen. Andererseits glaube ich nicht, dass es grundsätzlich zwecklos ist.
Insgesamt betrachtet investieren zumindest in Deutschland kaum Menschen in Aktien. Dabei zeigen alle Daten, dass es langfristig kaum falsch sein kann, sich am Markt zu engagieren …
Ich glaube, besonders auf langfristige Sicht sind Märkte in einem gewissen Maß vorhersehbar. Es ist sehr selten, dass sich der Markt über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg schlecht entwickelt. Deshalb rate ich den Leuten auch nicht ängstlich dazu, ihr Geld vom Markt abzuziehen.
Glauben Sie grundsätzlich an das Narrativ, dass der Markt früher oder später immer neue Allzeithochs erreichen wird oder hat sich das seit Japans langer Durststrecke erledigt?
Märkte wie der in Japan sind eine Warnung und tatsächlich ein populäres Narrativ, das zur Entwicklung der Finanzkrise beigetragen hat. Japan hatte nach dem Höhepunkt 1990 eine verlorene Dekade – und dann noch eine. Es kann also sehr lange dauern, bis sich Märkte wieder erholen. Momentan haben wir einen Milliardär als Präsidenten und die Idee, dass Märkte wundervoll sind, wirkt sehr stark. Das muss nicht immer so bleiben. Zum ersten Mal seit Jahren ist in den Nachrichten ein Thema aus dem Ausland stärker vertreten als Donald Trump.
Ich habe einige Ihrer Bücher und Interviews gelesen und frage mich auch am Ende dieses Interviews noch: Mag Robert Shiller eigentlich Aktien oder nicht?
Grundsätzlich mag ich Aktien. Sie sind eine tolle Erfindung und ermutigen zu Unternehmertum. Die Möglichkeit, eine Firma in Aktien aufzuteilen und Menschen daran teilhaben zu lassen, ist aufregend und erzeugt Interesse am Geschäft. Aktien sind also insgesamt eine gute Sache und eine Quelle von Wohlstand. Im Lauf der Jahrhunderte tendieren Länder mit aktiven Aktienmärkten dazu, sich besser zu entwickeln. Davon haben andere gelernt. Es handelt sich um ein wachsendes Phänomen.
Wir haben uns jetzt viel über Narrative und ihre Wirkung unterhalten. Spielen Erzählungen heutzutage wirklich noch so eine große Rolle, wenn ein Großteil des Handels von Maschinen, Hedgefonds und institutionellen Anlegern mit sehr strengen Regeln bestimmt wird?
Menschen programmieren Maschinen. Vielleicht werden im nächsten Jahrhundert die Märkte von Computerentscheidungen dominiert. Ich glaube aber, wir sind noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem Maschinen die treibende Kraft am Markt sind.
Dieser Artikel ist in DER AKTIONÄR Nr. 12/2020 erschienen, welches Sie hier als PDF gesamt herunterladen können.