Im Wirecard-Prozess hat der Kronzeuge der Staatsanwaltschaft den früheren Vorstandschef Markus Braun am Montag als maßgebliche Figur bei jahrelangem Milliardenbetrug beschuldigt. „Wirecard war ein Krebsgeschwür“, sagte der mitangeklagte Manager Oliver Bellenhaus vor dem Landgericht München. Es habe „ein System des organisierten Betrugs“ gegeben, Braun sei ein „absolutistischer CEO“ gewesen.
Braun und Bellenhaus sitzen seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft, dritter Angeklagter ist der frühere Wirecard-Chefbuchhalter. Die Staatsanwaltschaft wirft den drei Angeklagten und weiteren Beschuldigten vor, eine kriminelle Betrügerbande gebildet und mit erfundenen Gewinnen die Kreditgeber des 2020 zusammengebrochenen DAX-Konzerns um 3,1 Milliarden Euro geprellt zu haben. Braun bestreitet die Vorwürfe.
„Er sieht sich als Opfer, und das ist ein bekanntes Muster“, sagte Bellenhaus über seinen früheren Chef. Braun hatte bis zum Kollaps des Bezahldienstleisters im Juni 2020 jahrelange Zweifel an den Bilanzen immer in Bausch und Bogen zurückgewiesen. „Blinde Loyalität“ zu Braun und dem seit zweieinhalb Jahren flüchtigen früheren Vertriebsvorstand Jan Marsalek habe ihn das Gesetz brechen lassen und ins Gefängnis gebracht, sagte Bellenhaus.
Bellenhaus packt aus – zumindest ein bisschen
Der 49-Jährige sagte am dritten Prozesstag als erster der drei Angeklagten zur Sache aus. Er ist auch der einzige, der die Vorwürfe einräumt. „Ich bin erschrocken über mein eigenes Leben“, sagte der Kronzeuge – und betonte, wie sehr er den immensen Schaden bereue.
Doch ging aus Bellenhaus' Aussage nicht hervor, wann die Betrügereien begannen und wie die Wirecard-Bande sich formiert haben soll. Brauns Verteidigung wirft ihm vor, Firmengelder in Millionenhöhe auf die Seite geschafft und veruntreut zu haben. Bellenhaus sitzt trotz Kronzeugenrolle wie Braun seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft.
„Aus kleinen Lügen wurden große Lügen“, ließ Bellenhaus die Anfänge der kriminellen Geschäfte im Ungefähren. Er berichtete jedoch von mehreren Besprechungen, an denen Braun und andere Beschuldigte teilgenommen und beraten haben sollen, wie die Fassade der erfundenen Geschäfte gewahrt werden könne.
Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft
Braun selbst bestreitet die Vorwürfe bislang. Über seine Verteidiger ließ er erklären, dass die vermissten Milliarden tatsächlich existierten, aber immense Summen von Bellenhaus und anderen Betrügern auf die Seite geschafft worden seien.
Brauns Anwalt Alfred Dierlamm erhebt indes schwere Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft und will den Prozess deshalb stoppen lassen. Dierlamm wirft den Ermittlern vor, erst viel zu spät mit der Untersuchung der tatsächlichen Zahlungsflüsse begonnen zu haben.
Die Verfahrensbeteiligten würden mit neuen Unterlagen überflutet, sagte der Anwalt – kurz vor Prozessbeginn 44.000 PDF-Seiten, danach noch einmal weitere 11.000 Seiten. „Die Ermittlungen, die die Staatsanwaltschaft in zwei Jahren Verfahren versäumt hat und jetzt parallel zur laufenden Hauptverhandlung durchgeführt werden, sind ein Fass ohne Boden“, sagte der Verteidiger.
Dierlamms zweiter, ebenso schwerwiegender Vorwurf lautet, dass die Staatsanwaltschaft der Verteidigung wesentliche Unterlagen vorenthalten habe.
Die Staatsanwaltschaft wies die Kritik zurück. „Die Akten zu dieser Anklageerhebung sind vollständig“, erklärte die Ermittlungsbehörde auf Anfrage. Die von Braun und Dierlamm angeführten Milliarden auf den Konten ehemaliger Wirecard-Geschäftspartner betreffen demnach Geschäfte, die gar nicht Teil der Anklage und somit für das Verfahren irrelevant sind. Die Kammer hat noch nicht über den Aussetzungsantrag entschieden.
Die juristische Aufarbeitung des Wirecard-Skandals läuft nun zwar, dürfte sich aber noch bis ins Jahr 2024 hinziehen – zumal sich vom ersten Prozesstag an ein Kampf mit harten Bandagen abgezeichnet hat. Geschädigte Anleger, die auf Schadenersatz hoffen, brauchen also noch jede Menge Geduld.
Mit Material von dpa-AFX.