In den kommenden drei Jahrzehnten könnte sich die Zahl weltweiter Demenzfälle, von denen Alzheimer am häufigsten vorkommt, fast verdreifachen. Das sagt zumindest eine Gesundheitsstudie voraus, die in der Fachzeitschrift "The Lancet Public Health" veröffentlicht wurde. Ihr zufolge könnten 2050 rund 153 Millionen Menschen mit Demenz leben – gegenüber 57 Millionen im Jahr 2019.
Im Verlauf der Alzheimerkrankheit werden die Nervenzellen des Gehirns unwiderruflich zerstört. Umso wichtiger wäre eine effektive Behandlungsoption der Gedächtniserkrankung. Doch der entscheidende Durchbruch ist noch immer nicht gelungen. Ein deutsches Biotech-Unternehmen verfolgt im Kampf gegen Alzheimer hingegen einen hochinteressanten Ansatz im bereits fortgeschrittenen Stadium. Für Varoglutamstat zur Behandlung der frühen Alzheimerkrankheit hat Vivoryon vor Kurzem von der US-Zulassungsbehörde FDA den Fast-Track-Status verliehen bekommen. DER AKTIONÄR hat mit dem Vorstandsvorsitzenden, Ulrich Dauer, über die Krankheit an sich sowie die Chancen von Vivaryon gesprochen.
DER AKTIONÄR: Herr Dauer, wie beurteilen Sie die Entwicklungen in der Alzheimer-Forschung in den vergangenen Monaten und Jahren im Allgemeinen?
Ulrich Dauer: Die Alzheimerkrankheit bedeutet für Millionen von Patientinnen und Patienten weltweit, wie auch für deren Angehörige, Pflegekräfte und die Gesellschaft, enormes Leid. Daher freut es mich zu sehen, dass das Thema Alzheimerforschung in den letzten Monaten wieder verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt ist. Für Aufmerksamkeit sorgte unter anderem die nicht unumstrittene Zulassung des Produkts Aduhelm durch die US-Gesundheitsbehörde FDA im Juni 2021, nachdem zuvor fast 20 Jahre lang keine neuen Medikamente zur Behandlung von Alzheimer zugelassen wurden. Weitere drei therapeutische Antikörper mit ähnlichen Wirkprinzipien sind derzeit in der späten klinischen Entwicklung in Richtung einer möglichen Zulassung. Trotz dieser jüngsten Entwicklungen besteht nach wie vor ein enormer Bedarf an sicheren, allgemein verfügbaren und wirksamen Therapien, die den Krankheitsfortschritt verlangsamen können. Insofern ist die Diagnose „Alzheimer“ immer noch ein extremer Schicksalsschlag für betroffene Patienten und deren Familien. Dennoch bin ich optimistisch, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem die Diversität und Qualität der Forschungs- und Entwicklungsprojekte entscheidende Fortschritte bei der Behandlung dieser Erkrankung herbeiführen werden.
Was ist das Spezielle am Ansatz von Vivoryon?
Die Alzheimerkrankheit ist durch drei wesentliche pathologische Merkmale gekennzeichnet. Das wohl bekannteste Merkmal sind die sogenannten Abeta Plaques. Dies sind charakteristische Ablagerungen von Proteinen im Gehirn der Patientinnen und Patienten. Hier setzen beispielsweise die gerade erwähnten therapeutischen Antikörper an, um diese aufzulösen. Ein zweites Merkmal ist ein entzündlicher Prozess der Gehirnzellen oder Neuronen, die sogenannte Neuroinflammation. Und als drittes Kennzeichen gilt die Bildung von Proteinablagerungen innerhalb der Neuronen, die sogenannten Tau-Proteine. Unser Forschungsteam bei Vivoryon hat ein Enzym-Paar identifiziert und charakterisiert, das in Gehirnen von Alzheimer-Patientinnen und Patienten in deutlich höheren Mengen vorkommt als bei gesunden Menschen, die Glutaminylzyklase oder kurz QPCT und eine weitere Variante, die iso-Glutaminylzyklase oder QPCTL. Mit unserem in der klinischen Entwicklung befindlichen Wirkstoffkandidaten Varoglutamstat blockieren wir die Aktivität dieser beiden Enzyme was alle drei dieser genannten pathologischen Merkmale positiv beeinflussen kann und damit die kognitiven Beeinträchtigungen der Patientinnen und Patienten verringern soll. Im Detail wird durch das Blockieren von QPCT die Entstehung einer toxischen Variante von Abeta-Molekülen verhindert, das sogenannte N3pE-Abeta. Darüber hinaus nehmen wir mit der Blockierung von QPCTL auch positiven Einfluss auf Entzündungsprozesse sowie auf die Bildung von Tau-Protein-Ablagerungen. Anders als die therapeutischen Abeta-Antikörper, die injiziert oder per Infusion verabreicht werden müssen, kann Varoglutamstat in Tablettenform eingenommen werden, was für die Patientinnen und Patienten weniger belastend ist. In einer ersten klinischen Studie mit 120 Patientinnen und Patienten konnten wir zeigen, dass es bereits bei einer Behandlungszeit von zwölf Wochen neben wichtigen Biomarkern und synaptischen Funktionen einen statistisch signifikanten Unterschied in einem Messwert des Kurzzeitgedächtnisses der behandelten Patientinnen und Patienten gegenüber den Ausgangswerten gab. Diese sehr ermutigenden Ergebnisse sind eine wichtige Grundlage für zwei Phase II Studien, die wir derzeit in Europa und in den USA durchführen.
Vivoryon hat vor Kurzem für das am Weitesten fortgeschrittene Projekt den Fast-Track-Status erhalten. Was bedeutet das für das Projekt?
Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat unserem in der klinischen Entwicklung befindlichen Wirkstoffkandidaten Varoglutamstat den Status der Fast-Track-Designation zur potenziellen Behandlung der frühen Alzheimerkrankheit zugesprochen. Für Vivoryon ist dies ein äußerst ermutigendes Signal, denn dieser Status ermöglicht es uns, einfacher und schneller mit der FDA zu kommunizieren. Darüber hinaus ist die Erlangung der Fast-Track-Designation eine der Voraussetzungen, um zu einem späteren Zeitpunkt eventuell ein beschleunigtes Zulassungsverfahren anstreben zu können. Wir arbeiten hart daran, mit unseren laufenden klinischen Studien in Europa und den USA die Voraussetzungen zu schaffen, möglichst bald eine Behandlungsalternative für die Patientinnen und Patienten bieten zu können.
Was sind die nächsten Schritte bei Varoglutamstat? Wie geht es auf der Zeitschiene weiter?
Der nächste wichtige Meilenstein in unserer europäischen Studie VIVIAD, mit 250 Patientinnen und Patienten in fünf Ländern und ca. 20 Studienzentren ist eine Zwischenanalyse, die wir für Mitte 2022 erwarten. Basierend auf den Sicherheits- und Verträglichkeitsdaten der ersten 90 Patientinnen und Patienten wird eine Entscheidung über die finale Dosis von Varoglutamstat für diese Studie getroffen, die dann entweder aus 2x300 mg oder 2x600 mg täglich bestehen wird. Der primäre Endpunkt der Studie besteht aus einer Kombination zweier kognitiver Fähigkeiten, dem Kurzzeitgedächtnis und definierten Aufmerksamkeitsparametern, nach mindestens 48 Wochen Behandlung. Die Daten hierzu erwarten wir in der zweiten Jahreshälfte 2023. Wir haben kürzlich auch unsere US-Studie VIVA-MIND gestartet, die zunächst 180 Patientinnen und Patienten einschließen wird. Auch hier wird es eine Zwischenanalyse geben, voraussichtlich in der ersten Hälfte 2023. Sollten wir hier die vordefinierten Sicherheits- und Wirksamkeitskriterien erfüllen, werden weitere 234 Patienten in diese Studie eingeschlossen. Der primäre Endpunkt dieser Studie ist eine Kombination aus kognitiven Fähigkeiten und Aktivitäten des täglichen Lebens, der sogenannte CDR-SOB.