DER AKTIONÄR präsentiert: Was wäre, wenn?

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DER AKTIONÄR 15.03.2025 DER AKTIONÄR

Was wäre, wenn die Ukraine keine internationale Unterstützung erhalten hätte? Welche geopolitischen Folgen hätte ein russischer Sieg nach sich gezogen? Diese Fragen analysiert die renommierte Journalistin Anne Applebaum in einem Essay, ­der als Teil eines Buches im Kulmbacher Plassen Verlag erschienen ist. Der Text zeichnet ein eindringliches Bild der möglichen Konsequenzen: von der ­Zerschlagung der Ukraine über die Destabili­sierung Europas bis hin zu einer globalen Stärkung auto­kratischer Regime. Eine Reflexion über Krieg, Demokratie und die ­Bedeutung westlicher Solidarität.

Mehr als ein Jahr nach dem vollständigen Einmarsch in die Ukraine fuhr ich von Krakau nach Cherson. Wir hielten zum Mittagessen in Lwiw, wo sich die Fußgänger auf den Straßen drängten. Wir verbrachten eine Nacht in Winnyzja in einem normal funktionierenden Hotel. Wir fuhren auf Autobahnen vorbei an Lastwagen, die Exporte, Importe und Produkte quer durch das Land transportierten. Wir fuhren an Traktoren, Mähdreschern und Getreidefeldern vorbei. Bis wir in das Gebiet kamen, das zuvor unter russischer Besatzung gestanden hatte, sahen wir nur sehr wenige Kriegsschäden. Der ukrainische Staat funktionierte. Außerhalb der aktiven Konfliktzonen führten die Menschen ein normales Leben.

Im Frühjahr 2023 war die Versuchung groß, diese relative Normalität als selbstverständlich, ja sogar als unvermeidlich anzusehen. Aber daran war nichts unvermeidlich. Ein funktionierender ukrainischer Staat, die ukrainische Souveränität und das Fortbestehen der ukrainischen Regierung waren nicht unvermeidlich. Im Februar 2022 hielten viele Menschen all diese Dinge für unwahrscheinlich, unglaublich, ja sogar für unmöglich.

Am Vorabend der Invasion rieten einige amerikanische und europäische Experten davon ab, der Ukraine militärische Hilfe zu leisten, weil der Krieg zu schnell zu Ende sein würde. Andere wiederholten die russische Propaganda und stellten infrage, ob die Ukraine das Recht habe zu existieren oder ob sie es verdiene, verteidigt zu werden. Wieder andere beschuldigten die NATO oder die Regierung Biden, den Krieg provoziert zu haben, und weigerten sich zu glauben, dass Russland ein Aggressor sein könnte oder dass der russische Imperialismus der wahre Grund für den Konflikt sei. Einige amerikanische und europäische Politiker schlossen sich damals diesen Ansichten an, und einige tun dies auch heute noch.

Was wäre, wenn sie sich durchgesetzt hätten? Was wäre, wenn ein anderer Präsident im Weißen Haus gesessen hätte? Was wäre, wenn auch Europa von anderen Führern geleitet worden wäre? Stellen wir uns nur einen Moment lang eine Welt vor, in der es keine amerikanische Unterstützung für die Ukraine und keine europäischen Waffen für die Ukraine gegeben hätte; oder aber eine Welt, in der die Ukrainer diese Unterstützung oder diese Waffen nicht genutzt hätten, weil sie nicht die Entscheidung getroffen hätten, zurückzuschlagen.

Wäre der russische Plan so ausgeführt worden, wie er geschrieben stand, wäre Kiew in wenigen Tagen erobert worden. Präsident Selenskyj und seine Frau wären von einem der Killerkommandos, die in der Hauptstadt umherzogen, ermordet worden. Der ukrainische Staat wäre von den Kollaborateuren übernommen worden, die sich bereits ihre Kiewer Wohnungen ausgesucht hatten. Dann hätte die russische Armee Stadt für Stadt, Region für Region gegen die Reste der ukrainischen Armee gekämpft, bis sie schließlich das ganze Land erobert hätte. Ursprünglich ging der russische Generalstab davon aus, dass dieser Sieg sechs Wochen in Anspruch nehmen würde.

Dmytro Kuleba, Ukraine 2030
Dmytro Kuleba, Ukraine 2030, 304 Seiten, 19,90€ - Aktueller denn je: Wie geht es mit der Ukraine, wie geht es mit Europa weiter? Der ukrainische ­Ex-Außen­­minister Dmytro Kuleba versammelt Essays von führen­den Persön­lich­­keiten, Außenpoli­tik­experten, Schriftstellern und Historikern. Condoleezza Rice, Ban Ki-moon, Marieluise Beck, Nassim Nicholas Taleb und viele andere stellen sich unter anderem die Frage, wie das Engagement der Ukraine für Freiheit und internationale Stabilität ihren künftigen Platz in der Welt bestimmen wird.

Wäre all dies wie geplant geschehen, wäre die Ukraine heute übersät mit Konzentrationslagern, Folterkammern und Behelfsgefängnissen, wie sie in Butscha, Isjum, Cherson und anderen zeitweilig von Russland besetzten und von der ukrainischen Armee befreiten Gebieten entdeckt wurden. Eine Generation von ukrainischen Schriftstellern, Künstlern, Politikern, Journalisten und führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wäre bereits in Massengräbern verscharrt worden; wir wissen, wer einige von ihnen sind, denn ihre Namen standen auf Listen, die die Russen vor dem Einmarsch erstellt hatten. Ukrainische Bücher wären aus den Schulen und Bibliotheken entfernt worden, wie es bereits in den besetzten Gebieten geschehen ist. Die ukrainische Sprache wäre in allen öffentlichen Räumen unterdrückt worden, wie es auch in den besetzten Gebieten der Fall war. Hunderttausende ukrainischer Kinder wären entführt und nach Russland oder in die ganze Welt verschleppt worden.

Russische Soldaten, gestärkt durch ihren überwältigenden Sieg, würden bereits an den Grenzen Polens stehen, neue Kommandoposten einrichten und neue Gräben ausheben. Die NATO würde im Chaos versinken. Das gesamte Bündnis würde jetzt Milliarden ausgeben, um sich auf eine mögliche Invasion von Warschau, Tallinn, Vilnius oder sogar Berlin vorzubereiten. Die Vorstellung, dass die europäischen Länder irgendwie „weniger“ für die Verteidigung ausgeben würden, wenn Russland die Ukraine erobern und damit den Krieg vorzeitig beenden würde, ist eine gefährliche Illusion: Die Kosten, die der NATO durch die Vorbereitung auf einen Kampf gegen Russland auf NATO-Gebiet entstehen, sind weitaus höher.

Millionen von ukrainischen Flüchtlingen würden in Lagern in ganz Europa leben, ohne Aussicht auf eine Rückkehr in ihre Heimat, wie es so viele in den letzten Monaten getan haben. Die Flut des Mitgefühls, die ihnen ursprünglich entgegengebracht wurde, wäre längst abgeebbt. Die für sie bereitgestellten Gelder würden auslaufen, die Gegenreaktion wäre im Gange. Das Problem der ukrainischen Flüchtlinge und der ukrainischen Flüchtlingslager würde in vielen europäischen Ländern ganz oben auf der Tagesordnung stehen und vielleicht sogar einige europäische Regierungen erschüttern.

US-Historikerin und Journalistin Anne Applebaum
Die US-Historikerin und Journalistin Anne Applebaum beschäftigt sich seit 1989 vor allem mit den Konflikten rund um Osteuropa und Russland und veröffentlichte dazu zahlreiche Bestseller. 2004 gewann sie den Pulitzerpreis, 2024 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

In allen Nachbarländern der Ukraine würde es zu Veränderungen kommen. Die weißrussischen Aktivisten würden, anstatt wie jetzt für die Zukunft zu planen, mit einer noch hoffnungsloseren Situation konfrontiert werden. Ihr Diktator Lukaschenko würde sich darauf vorbereiten, sie in die neue russisch-weißrussisch-ukrainische Föderation zu führen, ein Gebilde, das ein russischer Propagandist am 26. Februar verfrüht mit diesen Worten begrüßte: „Russland stellt seine Einheit wieder her; die Tragödie von 1991, diese schreckliche Kata­strophe in unserer Geschichte, seine unnatürliche Zerrissenheit, ist überwunden … Russland stellt seine historische Fülle wieder her, versammelt die russische Welt, das russische Volk – in seiner Gesamtheit aus Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen.“1 Die moldawische Wirtschaft wäre völlig zusammengebrochen; eine prorussische Regierung in Moldawien würde vielleicht schon planen, auch dieses Land in dieselbe Föderation einzugliedern.

Innerhalb der europäischen Staaten würden pro-russische Personen und Parteien gestärkt und ermächtigt: die Freiheitliche Partei in Österreich, Marine Le Pen in Frankreich, die pro-russischen Elemente der italienischen Rechtsextremen, die Alternative für Deutschland in Deutschland. Extremisten aller Art, ob linksextremistisch, rechtsex­tremistisch oder separatistisch, hätten einen bequemeren Platz. Die Befürworter der Autokratie würden lautstark ihren Sieg verkünden. Die Putin’sche Autokratie würde mächtiger und überzeugender erscheinen als die transatlantische Demokratie.

Diese Katastrophe wäre nicht auf Europa beschränkt geblieben. Auf der anderen Seite der Welt wären die chinesischen Pläne für eine Invasion Taiwans in vollem Gange, denn Peking würde davon ausgehen, dass ein Amerika, das nicht bereit ist, einen europäischen Verbündeten zu verteidigen, niemals einer Insel im Pazifik helfen würde. Die iranischen Mullahs, die von Russlands Erfolg und der Niederlage der Ukraine gleichermaßen beglückt sind, würden sich anschicken, den Erwerb von Atomwaffen anzukündigen. Von Venezuela über Simbabwe bis Myanmar hätten Diktaturen auf der ganzen Welt ihre Regime gestrafft und die Verfolgung ihrer Gegner verschärft. Sie wären davon überzeugt, dass die alten Regeln – die Konventionen über Menschenrechte und Völkermord, das Kriegsrecht, das Tabu, Grenzen mit Gewalt zu verändern – nicht mehr gelten. Von Washington bis London, von Tokio bis Canberra würde sich die demokratische Welt grimmig mit ihrer Obsoletwerdung auseinandersetzen.

Aber nichts von alledem geschah. Weil Präsident Selenskyj in Kiew blieb und erklärte, er brauche „Munition, keine Mitfahrgelegenheit“; weil ukrainische Soldaten den ersten russischen Angriff auf ihre Hauptstadt zurückschlugen; weil die ukrainische Gesellschaft an einem Strang zog, um ihre Armee zu unterstützen; weil die Ukrainer auf allen Ebenen kreativ mit den begrenzten Ressourcen umgingen; weil die ukrainische Zivilbevölkerung bereit war und ist, schreckliche Entbehrungen auf sich zu nehmen; wegen all dem leben wir nicht in dieser hässlichen, alternativen Realität.

Weil sie von diesen ersten Wochen ukrainischen Mutes inspiriert waren, widerstanden Präsident Joe Biden und der US-Kongress der Versuchung des „America First“-Isolationismus und lehnten den Autokratiekult ab, der heute einen Teil der amerikanischen Rechten in seinen Bann zieht. Auch die europäischen Staats- und Regierungschefs – mit Ausnahme des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, einem der Chefideologen ebendieses Kults – widerstanden den gezielten russischen Desinformations- und Erpressungskampagnen und erklärten sich bereit, die Ukraine sowohl mit militärischer als auch humanitärer Hilfe zu unterstützen. Menschen auf der ganzen Welt sahen, wie sich die Ukrainer gegen eine brutale Diktatur wehrten. Sie stellten ihre Zeit und ihr Geld zur Verfügung, um zu helfen.

Dank all dem, was wir gemeinsam getan haben, steht Kiew immer noch. Die Ukrainer kontrollieren immer noch den größten Teil der Ukraine. Die Massaker, die Hinrichtungen, die von den Russen geplante Massengewalt haben in den meisten Teilen der Ukraine nicht stattgefunden. Die Legende von der militärischen Stärke Russlands hat sich zerschlagen. In China und Iran herrschen Unzufriedenheit und Unruhen. Die demokratische Welt ist nicht zusammengebrochen, sondern gestärkt worden. Wie der ukrainische Präsident im vergangenen Frühjahr in Washington sagte, ist es uns „gelungen, die Weltgemeinschaft zum Schutz der Freiheit und des Völkerrechts zu vereinen“.2 Präsident Selenskyj und seine Minister bemühen sich oft, den Amerikanern und Europäern im Namen der Ukraine zu danken, aber in Wahrheit sollten wir es sein, die ihnen danken sollten.

ZUM BUCH Ukraine 2030


Dieser Artikel ist in DER AKTIONÄR Nr. 12/2025 erschienen, welches Sie hier als PDF gesamt herunterladen können.


1 Petr Akopov, „Brave New World of Putin: An Article by the Propaganda Publication RIA Novosti, which Was to Be Published after the Occupation of Ukraine“, Militarnyi, 28. Februar 2022, https://mil.in.ua/en/news/brave-new-world-of-putin-an-article-by-the-­propaganda-publication-ria-novosti-which-was-to-be-published-after-the-­occupation-of-ukraine/.

2 „Address Before a Joint Session of the Congress by President Volodymyr Zelenskyy of Ukraine“, The American Presidency Project, 21. Dezember 2022, https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-before-joint-­session-the-congress-­president-volodymyr-­zelenskyy-ukraine-0.

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Buchtipp: Ukraine 2030: Vision einer Nation

Essays von führenden Persönlichkeiten, Außenpolitikexperten, Schriftstellern und Historikern, gesammelt und herausgegeben vom ehemaligen ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba.
Vor dem Hintergrund des brutalen Krieges bieten die Autoren nicht  nur einen einzigartigen, über die westliche Sichtweise hinausgehenden Einblick in die Auswirkungen des Krieges auf die Ukraine und die Welt. Sie widmen sich vor allem auch der Frage, wie das Engagement der Ukraine für Freiheit und internationale Stabilität ihren künftigen Platz in der Welt bestimmen wird.

Ukraine 2030: Vision einer Nation

Autoren:
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Erscheinungstermin: 13.02.2025
Format: Klappenbroschur
ISBN: 978-3-68932-004-1

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