Von Leila Abboud
Financial Times
Übersetzung: Stefanie Konrad
„Der Geist, der nicht liest, verkümmert wie der Körper, der nicht isst“, so formulierte es Victor Hugo einst. Die Aussage des Autors von Les Misérables bedeutet in Frankreich, dass die Literatur kein gewöhnliches Geschäft ist wie jedes andere. Die Literatur ist eine Kunstform, die es zu schützen gilt. Und genau das werden die EU-Aufsichtsbehörden beim Vivendi-Lagardère-Deal versuchen.
Die bevorstehende Übernahme des größten französischen Verlags Hachette durch den Milliardär Vincent Bolloré hat die französische Literaturwelt in Aufruhr versetzt. Bolloré ist der Eigentümer des Medienkonzerns Vivendi. Er hat ein Übernahmeangebot für die 55 Prozent von Lagardère abgegeben, die dem Eigentümer von Hachette noch gehören. Sollte der Deal zustande kommen, würde Vivendi zum drittgrößten Verlag nach Bertelsmann Penguin Random House und dem zur News Corp gehörenden HarperCollins werden. Für Bolloré wäre dies ein wichtiger Schritt in seinem Bestreben, den Konzern wiederaufzubauen. Denn im vergangenen Jahr hatte er den Großteil seines größten Geschäftsbereichs, Universal Music Group, verkauft.
Das letzte Wort haben allerdings die Kartellbehörden in Brüssel, die den Deal aktuell prüfen. Das Buchverlagswesen in Frankreich stellt jedoch bereits das größte potenzielle Wettbewerbsproblem dar. Denn Vivendi besitzt schon Editis, den zweitgrößten Akteur in der Branche, und Hachette ist die Nummer eins.
Die Konkurrenz schlägt auch bereits Alarm. Antoine Gallimard, der Eigentümer des drittgrößten französischen Verlags, hält den Deal für „unvorstellbar“ und „gefährlich“. Ein Buchhändlerverband hat den künftigen Konzern mit einem „Finanz- und Marketing-Bulldozer“ verglichen, der unbekannten oder unkonventionellen Autoren den Zugang zum Markt versperrt und die „Büchervielfalt“ in Frankreich einschränken würde.
Und der Verband hat recht. Sollte Vivendi Hachette übernehmen, würde der neue Konzern laut Wirtschaftsexpertin Françoise Benhamou etwa 70 Prozent am französischen Schulbuchmarkt und über 50 Prozent am Taschenbuch- und Tourismusbuchmarkt halten. Hachette und Editis haben im vergangenen Jahr in Frankreich zusammen etwa 1,5 Milliarden Euro erwirtschaftet. Das neue Unternehmen wäre demnach gemessen am Umsatz etwa zweieinhalb Mal so groß wie die beiden nächstgrößeren Verlage Madrigall (Eigentümer von Gallimard und Flammarion) und Média Participations (Seuil und La Martinière).
Die Aufsichtsbehörden werden wahrscheinlich ein Maßnahmenpaket erlassen, um französische Buchhändler und Autoren im Falle einer Genehmigung des Deals vor Nachteilen zu bewahren. Dies könnte den Verkauf von Vermögenswerten in bestimmten Buchkategorien oder in Bereichen wie Vertrieb und Logistik umfassen. Vivendi hat die Notwendigkeit von Maßnahmen öffentlich anerkannt und arbeitet daran.
Es gibt jedoch noch einen anderen Faktor, der in der literarischen Welt für Unruhe sorgt und der möglicherweise schwerer zu beheben ist: Vincent Bolloré selbst. Der 70-jährige Industrielle hat zwar erst vor kurzem die Leitung seines Firmenimperiums offiziell an seine Söhne übergeben. Doch er behält Vivendi, das er zu einer führenden Kraft in den französischen Medien gemacht hat, weiterhin im Auge. Der Konzern besitzt Fernsehkanäle, Radiosender, Zeitschriften und Zeitungen, eine Werbeagentur und eine TV- und Filmproduktionsfirma.
Unter dem politisch konservativen Bolloré hat der Konzern auch nicht gezögert, einige dieser Medien politisch nach rechts zu verlagern. Der Konzern hat den 24-Stunden-Nachrichtensender CNews zu einem lauten Pendant von Fox News gemacht, der die politische Karriere des rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour gestartet hat.
Könnten Bollorés politische Ansichten Auswirkungen auf das Buchverlagswesen haben? Die Kartellbehörden haben nur wenig Einfluss auf solche politischen Fragen. Schenkt man aber dem Beispiel der USA Glauben, achten sie sehr auf mögliche Wettbewerbsverzerrungen in dieser Branche. Das US-Justizministerium hat eine Klage eingereicht, um eine weitere große Fusion zu verhindern, nämlich die geplante Übernahme von Simon & Schuster (Viacom) durch Penguin Random House für 2,2 Milliarden Dollar. Begründet hat das Ministerium das damit, dass dies zu geringeren Vorschüssen für Autoren, weniger Büchern und weniger Vielfalt für die Verbraucher führen würde.
Französische Buchliebhaber profitieren bereits von einem viel strengeren rechtlichen Rahmen als in den USA. Durch diesen Rahmen werden die Verlage und Buchhandlungen vor Amazon und den sich ändernden Verbrauchergewohnheiten geschützt. In den 1980er-Jahren beschloss die Regierung, dass Bücher keine Ware wie jede andere sind. Sie ordnete einen „Einheitspreis“ für Bücher an, der Rabatte praktisch verbietet, und weitete dieses System später auf E-Books aus. Somit hat Amazon eine geringere Chance, diese Lücke auszunutzen. Das Unternehmen konnte nur zehn Prozent des gesamten Buchmarktes für sich beanspruchen, während es in den USA 40 Prozent sind. In Frankreich gibt es auch noch viele unabhängige Buchhändler.
In einem solchen Umfeld wäre es mutig, nicht auf dem Schutz von Victor Hugos geliebter Freizeitbeschäftigung zu bestehen – falls es zum Kauf von Hachette durch Bollorés Vivendi kommen sollte.
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