Die Zahlen stimmen nicht mehr, der Traum vom unaufhaltsamen Wachstum scheint gelebt – und vorbei. Zweifel werden laut. Das Kapital ergreift die Flucht. So weit die zugespitzte Beschreibung einer Entwicklung, die in den zurückliegenden Tagen durch die Köpfe vieler Anleger gegeistert ist. An den Fakten führt kein Weg vorbei: 540 Milliarden Dollar sind weg – allein bei Nvidia. Fakt ist auch: Nach fulminanter Rally ist der plötzliche Schwund beim Börsenwert des Architekten der Chips hinter vielen KI-Anwendungen vieles, doch nicht vollkommen unerwartet. Die bewusst spitz formulierte Frage, ob denn alles aus sei in Sachen KI, muss damit gleich zu Beginn relativiert, wenn nicht gar in Gänze negiert werden.
Absolut versus relativ
Denn wer Zweifel sät, folgt damit einzig folgender Lesart: Die Wachstumsraten befinden sich im Sinkflug. Tatsächlich konnte Nvidia im zurückliegenden Quartal die Erlöse nur noch um 122 Prozent steigern. Im Jahresviertel zuvor erreichte das Wachstum noch 261 Prozent. Doch in absoluten Zahlen liest sich das ein wenig anders. Hier sehen wir im Jahresvergleich immer noch ein Plus um 16,5 Milliarden Dollar (nach zuvor 18,8 Milliarden). Und in der Betrachtung Quartal zu Quartal ist der Zuwachs sogar leicht höher ausgefallen als zuvor – in Dollar, nicht in Prozent gemessen. Ergo: Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man relative oder absolute Veränderungen betrachtet. Selbiges gilt im Übrigen auch für die Entwicklung des Börsenwertes, nur hier umgekehrt: So ist der Börsenwert zwar innerhalb weniger Wochen um einen mittleren dreistelligen Milliardenbetrag gefallen. Relativ betrachtet allerdings fällt der Verfall mit etwa 17 Prozent für einen zuvor stark gestiegenen Börsenstar recht moderat aus.
Künstliche Intelligenz: Anwendungen stehen noch am Anfang
Das Big Picture indes erweist sich in der Betrachtung nach wie vor als freundlich. Dem Publikum bekannte KI-Anwendungen wie ChatGPT oder die Grafik-KI Midjourney stehen trotz enormer Fortschritte in den zurückliegenden Wochen und Monaten noch relativ weit am Anfang ihrer Entwicklung. Dabei sind dies nur die prominentesten Beispiele für erfolgreiche Anwendung von künstlicher Intelligenz. Experten sehen enormes Potenzial für KI etwa in der Medizin, der Pharmaindustrie und der Biotechnologie, vor allem im Bereich der Arzneimittelentwicklung und klinischen Studien. Dr. Seema Sayani von Cognizant betont, dass KI in der Lage sei, komplexe biologische Muster zu erkennen, die für Menschen schwer erkennbar wären. Dies habe bereits zu Durchbrüchen bei der Identifizierung neuer Medikamente geführt, beispielsweise bei der Behandlung von Covid-19. Im Finanzsektor hilft der Einsatz von KI, die Zahl von Betrugsfällen signifikant zu reduzieren und die Risikobewertung effizienter zu gestalten, will McKinsey festgestellt haben. In der Industrie wird sie eingesetzt, um Prozesse zu optimieren, ebenso in der Logistik. Sie ist unerlässlich, um Mobilitätsprozesse autonom zu gestalten.
Korrekturen als Chancen verstehen
Nvidia als bekanntester Vertreter aller KI-Profiteure mag seinen Zenit in Bezug auf relative Wachstumsraten womöglich erreicht haben. Weiter wachsen wird die Firma dennoch. Und die Einsatztiefe und -vielfalt der künstlichen Intelligenz in so vielen Bereichen unseres Lebens steht gewiss eher am Anfang denn am Ende einer langen Entwicklung. Daher sind Korrekturen am Aktienmarkt, wie wir sie zuletzt erlebt haben, als Chance zu begreifen. Alles aus? Mitnichten!