Die Nerven liegen blank. Wieder einmal. Aber derzeit so deutlich wie vielleicht seit dem Beginn von "Dieselgate" vor fast fünf Jahren nicht mehr. VW-Konzernchef Herbert Diess gibt die Führung der Hauptmarke in der größten Autogruppe der Welt ab. Die Aktie verliert im Zuge des schwachen Gesamtmarkts überproportional.
Freiwillig und aus eigener Einsicht - oder muss er sie abgeben? Ist es eine letzte Warnung an den gern offensiv und schneidig auftretenden Manager, nachdem sich in den vergangenen Monaten die Probleme und Kommunikationspannen häuften? Offizielle Darstellung: Diess müsse "mehr Freiraum" für strategische Aufgaben erhalten. Inoffizielle Lesart bei so manchem: Er könne noch froh sein, wenigstens den Gesamtkonzern weiter steuern zu dürfen.
"VW hat in einer äußerst herausfordernden Zeit seine selbst angezettelte Führungskrise."
„VW hat in einer äußerst herausfordernden Zeit seine selbst angezettelte Führungskrise – die Transformation zum Elektroauto und die vom Coronavirus ausgelöste Weltwirtschaftskrise fordern alle Kraft und sollten keinen Raum für Betriebsratsrevolten lassen“, sagt Auto-Experte Ferdinand Dudenhöffer vom CAR-Center Automotive Research.
Machtkämpfe sind an der Tagesordnung
Bei Volkswagen sind sie Machtkämpfe, Interessenkollisionen und sonstige Auseinandersetzungen beinahe schon gewohnt - zum Leidwesen der Beschäftigten, die ihr Unternehmen immer wieder in ein schlechtes Licht gerückt sehen. Doch jetzt hat der oberste Manager im Streit um die Verantwortung für Fehler den Bogen womöglich überspannt.
Golf 8 hinkt den Zielen hinterher
Vor mehr als 3.000 Managern beklagte sich Diess in einer Videokonferenz über das Durchstechen sensibler Informationen zu den Schwierigkeiten, mit denen VW zu kämpfen hat. Beim Aushängeschild Golf 8 hinkt die Produktion den Zielen dramatisch hinterher, Software-Probleme plagen das Modell, viele Mitarbeiter fühlen sich mit dem steigenden Druck alleingelassen.
Hoffnungsträger ID.3 - Probleme mit der Software?
Auch der milliardenteure Hoffnungsträger ID.3 verzögert sich. Bei der Auto-Kaufprämie wagte sich Diess mit Forderungen weit vor, die nicht fruchteten. Dann noch die zunächst als abwiegelnd wahrgenommene Kommunikation rund um ein rassistisches Internet-Werbevideo. Und die Frage, ob in einer solchen Gemengelage Diess' angeblicher Wunsch nach einer frühzeitigen Vertragsverlängerung als angemessen erscheint.
Erst riss den einflussreichen Vertrauensleuten der IG Metall der Geduldsfaden. In einer beispiellosen Aktion sprachen sie dem Vorstand per offenen Brief über weite Strecken das Misstrauen aus. Man sei "zunehmend massiv besorgt", vermisse eine klare Krisenstrategie zu den Produktionsproblemen sowie zum öffentlichen Bild, das VW abgebe.
Aber auch Diess fühlte sich offenbar angegriffen, weil Interna gestreut worden seien. Vorletzte Woche musste er sich im Aufsichtsrat erklären. Bei dem, was am vergangenen Donnerstag in der Managerrunde dann folgte, sollen manche Anwesenden kaum ihren Ohren getraut haben.
"Die Vorkommnisse im Aufsichtsrat in der letzten Woche und die Kommunikation über die Vorkommnisse im Aufsichtsrat helfen dem Unternehmen nicht", sagte Diess. "Sie sind auch ein Zeichen fehlender Integrität und Compliance. Das sind Straftaten, die im Aufsichtsratspräsidium passieren und dort offensichtlich zugeordnet werden können." Man müsse "aufpassen, dass der Aufsichtsrat, unser oberstes Gremium, im Prinzip uns da nicht in dieser Position schwächt". Das saß. Aber nicht nur bei den anderen Managern, sondern auch bei den so betriebsöffentlich kritisierten Kontrolleuren.
Ein Konzernsprecher sagte, es sei nicht Diess' Absicht gewesen, die eigenen Aufseher anzugreifen. Im engsten Machtzirkel sitzen neben Chefkontrolleur Hans Dieter Pötsch Vertreter der Familien Porsche und Piëch, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), IG-Metall-Chef Jörg Hofmann und hohe Betriebsräte. "Dr. Diess wollte nicht zum Ausdruck bringen, dass sich Mitglieder des Aufsichtsrats strafbar gemacht haben", erklärte VW. Die Äußerungen seien "im Kontext von Presseberichten getätigt worden, für deren Grundlage in wiederholten Fällen offensichtlich vertrauliche Informationen auch zu Themen des Aufsichtsrats an Medien gelangt waren".
Stand Diess kurz vor dem Rauswurf?
Dennoch empfanden manche das offenbar als Untergraben der Autorität des obersten Konzerngremiums. Diess soll kurz vor dem Rauswurf gestanden haben, ist mitunter zu hören - vor allem formalrechtliche Bedenken hätten einige Entscheidungsträger noch davon abgehalten.
Die Idee, den erfahrenen Ralf Brandstätter vom Co-Geschäftsführer der Kernmarke zum operativ alleinzuständigen Chef der Fahrzeuge mit dem VW-Logo zu machen, habe es jedoch auch unabhängig von den jüngsten Zuspitzungen gegeben. Einige Kommentatoren bezweifeln zudem, ob es eine glückliche Entscheidung ist, Diess bei aller Kritik ausgerechnet in der schwierigen aktuellen Phase die Hauptmarke zu nehmen.
„Der bisherige COO Brandstätter, der gemeinsam mit Diess den Golf 8 Anlauf, die Software und den ID3 geplant und umgesetzt hat wird sein Nachfolger als Markenchef. Auch das mutet sonderbar an. Gleichzeitig teilt VW mit, dass Einkaufschef Sommer VW verlässt. Sommer stand wie Diess für den Auf- und Ausbau der Elektromobilität, für die großen Batterieprogramme des Konzerns und damit für die Zukunft“, sagt Auto-Experte Dudenhöffer.
"Zurück bleibt mehr als zerbrochenes Porzellan. Der größte Autobauer der Welt fährt erneut in eine selbstverschuldete Krise."
Kein Geheimnis ist, dass es insbesondere zwischen Betriebsratschef Bernd Osterloh und Diess seit langem kriselt. Schon beim Sparprogramm "Zukunftspakt" gerieten beide heftig aneinander.
Der Porsche/Piëch-Clan, der von Diess' Management-Qualitäten und Zukunftsorientierung überzeugt ist, steht - vorerst - ebenfalls weiter zu dem promovierten Fertigungstechniker.
„Zurück bleibt mehr als zerbrochenes Porzellan. Der größte Autobauer der Welt fährt erneut in eine selbstverschuldete Krise“, ergänzt Dudenhöffer.
Die VW-Aktie verliert am Dienstag in einem schwachen Gesamtmarkt überproportional. Dennoch bleibt DER AKTIONÄR grundsätzlich positiv für die Aktie gestimmt. Volkswagen ist trotz verschiedener Verzögerungen beim ID.3 mit seiner Elektro-Strategie auf dem richtigen Weg.
Die Aufwärtsbewegung der VW-Aktie fand exakt an der 200-Tage-Linie ihr Ende. Das Papier ist nach dem starken Anstieg in die Korrekturphase übergegangen. Eine Konsolidierung bis in den Bereich von 135 Euro wäre gesund. In diesem Bereich wartet eine stärkere Unterstützungslinie. Gleichzeitig verläuft hier auch die 100-Tage-Linie.
(Mit Material von dpa-AFX).