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Coronakrise: New Normal in Wuhan

Coronakrise: New Normal in Wuhan
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04.05.2020 ‧ Leon Müller

In Wuhan wurde der weltweit erste Covid-19-Fall festgestellt. Das liegt jetzt Monate zurück. Wuhan ist auch die erste Stadt auf der Welt, die zur Normalität zurückkehren möchte. Doch diese Normalität ist eine andere als die altbekannte. Ein Vor-Ort-Bericht von Sharon Chen und Matthew Campbell, gemeinsam mit Claire Che und Sarah Chen.

An jedem Arbeitstag in der Tablet- und Smartphonefabrik von Lenovo am Rande Wuhans müssen sich die Angestellten erst einmal bei einem Supervisor melden, um den ersten von mindestens vier Temperaturchecks über sich ergehen zu lassen. Die Ergebnisse werden in ein Datenverarbeitungssystem eingegeben. Jeder, der über 37,3 Grad Celsius liegt, wird automatisch gemeldet und von einer internen „Anti-Virus-Taskforce“ untersucht.

Die täglichen Arbeitsabläufe in der Einrichtung, die am 28. März wiedereröffnet hat, nachdem sie zwei Monate aufgrund der Coronavirus-Pandemie, die in der zentralchinesischen Stadt ihren Ausgang nahm, geschlossen gewesen war, wurden völlig neu gestaltet, um das Risiko einer Infektion zu minimieren. Bevor sie auf das Gelände zurückkehren durften, mussten die Mitglieder der Belegschaft sowohl auf das Virus als auch auf die Antikörper getestet werden, die auf eine frühere Krankheit hinweisen, und dann in Isolation in einem extra dafür eingerichteten Schlafraum auf die Ergebnisse warten. Nach der Freigabe durften sie zur Arbeit zurückkehren, wo man unterdessen die Kapazitäten der Konferenzräume von sechs Personen auf drei reduziert und die früher gemeinschaftlich genutzten Tische in der Cafeteria durch vertikale Barrieren unterteilt hat, übersät mit schriftlichen Hinweisen, jede Unterhaltung zu unterlassen. Überall finden sich Schilder, um anzuzeigen, wann bestimmte Bereiche das letzte Mal desinfiziert wurden. Wann immer möglich werden Roboter eingesetzt, um Arbeitsmaterialien zu transportieren, damit möglichst wenige Menschen von einem Ort zum anderen laufen müssen. Aufzüge sind ebenfalls ein Artefakt aus der „Vor-Corona-Zeit“. Jeder muss nun die Treppe nehmen und dabei stets genügend Abstand von anderen halten.

All diese Maßnahmen werden an einem Sonntag Mitte April von Qi Yue überwacht, dem Chef des Betriebs in Wuhan für die in Peking beheimatete Lenovo Group Ltd. Qi, 48 Jahre alt, kurz geschnittene Haare und stämmige Figur, war gerade in seiner Heimatstadt Tianjin im Norden Chinas, als die Regierung Wuhan am 23. Januar vom Rest des Landes abschottete. Er brauchte bis zum 9. Februar, um nach Hause zu kommen – und er schaffte es nur, indem er ein Zugticket nach Changsha, ein Stück weiter die Strecke entlang, kaufte und dann die Zugbegleiter anbettelte, ihn in Wuhan aussteigen zu lassen. Seine Aufgabe besteht darin, die Fabrik langsam wieder zum Laufen zu bringen und dabei höchste Wachsamkeit walten zu lassen. Verglichen mit der Aufgabe, das Virus aus dem Betrieb fernzuhalten, „ist es zweitrangig, wie viel wir produzieren“, sagt er.

Qi ist einer von Millionen Menschen in Wuhan, die herauszufinden versuchen, wie das ökonomische und soziale Leben nach der schlimmsten Pandemie seit 100 Jahren aussehen soll. In mancherlei Hinsicht sind sie in einer günstigen Position. Der Ausbruch in der Provinz Hubei hatte seinen Höhepunkt Mitte Februar und laut den offiziellen Statistiken treten fast keine neuen Infektionen auf (auch wenn die Regierungen anderer Länder die Zahlen Chinas in Zweifel ziehen). Wissenschaftler warnen aber, dass das neuartige Coronavirus heimtückisch und robust und ein Wiederauftreten immer noch möglich ist, solange es keinen verlässlichen Impfstoff gibt. Wie man dieses Risiko dagegen abwägen soll, einen industriellen Knotenpunkt mit mehr als zehn Millionen Menschen neu zu starten, ist ein gewaltiges Problem – eines, vor dem bald Regierungen in aller Welt stehen werden.

Aber im Hinblick auf das, was die Bürger durchmachen mussten, ist nicht klar, ob sie zu einem normalen Leben wie dem vor Januar 2020 zurückkehren wollen. Die Shoppingmalls und Geschäfte sind wieder geöffnet, aber größtenteils leer. Das Gleiche gilt für Restaurants. Man lässt sich das Essen lieber nach Hause liefern. In der U-Bahn geht es sehr ruhig zu, Autos hingegen verkaufen sich: Wenn es auch ärgerlich ist, im Verkehr festzustecken, so wahrt man dabei wenigstens die soziale Distanz.

Qi ist der Meinung, dass er bei diesem ökonomischen Balanceakt auf der Gewinnerseite steht. Tablets sind sehr gefragt, da Schulen auf der ganzen Welt zu Fernunterricht übergehen und Unternehmen, die über eine Zukunft mit mehr Homeoffice nachdenken, beim Budget für die benötigte Technologie nicht knausern werden. Seitdem der Betrieb wieder angelaufen ist, hat er mehr als 1.000 neue Arbeiter eingestellt und die Gesamtbelegschaft auf über 10.000 gesteigert. Die Fließbänder laufen unter Volllast.

Es ist ihm jedoch schmerzlich bewusst, wie schnell die Arbeit wieder zum Erliegen kommen könnte, wenn auch nur ein Angestellter sich mit dem Virus infiziert. „In den Meetings mit meiner Belegschaft sage ich immer: ‚Nicht nachlassen, nicht nachlassen.‘ Wir können uns keine Pannen leisten.“

Hubei ist die letzte Region in China, in der das alltägliche Leben wieder aufgenommen worden ist. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wurden von Ende März bis zum 8. April langsam aufgehoben, mehr als drei Monate, nachdem die Epidemie begonnen hatte. Spätabends am 7. April strömen Massen von Menschen in den Bahnhof Wuchang, einer von drei großen Eisenbahnknotenpunkten in Wuhan. Der erste Zug, der die Stadt seit Wochen verlässt, und zwar Richtung Guangzhou, soll um 0:50 Uhr abfahren, gefolgt von zahlreichen weiteren Abfahrten in viele große Städte Chinas. Polizisten mit schwarzen Uniformen und medizinischem Mundschutz scheinen überall zu sein. „Scannen Sie Ihren Code!“, rufen sie, während die Reisenden sich Toren nähern, die zu den abfahrenden Zügen führen. Das öffentlich-private „Gesundheits-Code“-System, das China entwickelt hat, um Covid-19 in den Griff zu bekommen und das auf den Alipay- und WeChat-Apps basiert, aber eng mit der Regierung verknüpft ist, schreibt jedem Bürger einen Virus-Risikostatus zu. Insgesamt gibt es davon drei – rot, gelb und grün. Es ist ein mächtiges Werkzeug – mit Missbrauchspotenzial. Ein grüner QR-Code, der ein niedriges Risiko einer viralen Infektion anzeigt, ist der Normalzustand, während jeder Kontakt mit einer infizierten Person einen gelben Code und eine vorgeschriebene Quarantäne nach sich ziehen kann. Rot steht für einen wahrscheinlichen oder bestätigten Krankheitsfall.

Reisen zwischen Städten erfordern einen grünen Code und obwohl die 22-jährige Zeng Xiao diesen besitzt und sich gut fühlt, ist sie in Sorge, doch nicht in den Zug zu kommen. „Es besteht immer noch das Risiko, dass ich abgewiesen werde, wenn meine Temperatur zu hoch ist“, sagt sie, als sie sich der Abreisezone nähert. „Ich habe meine Katze schon seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen.“ Ihre Sorge ist unbegründet. Ihr Temperaturscan ist normal und sie kann den Zug Richtung Süden besteigen.

Im Morgengrauen erwacht Wuhan behutsam wieder zum Leben. Friseurläden gehören zu den ersten Geschäften, die sich füllen. Die Straßen sind merklich belebter und Arbeiter fluten wieder in die Bürotürme in der Stadtmitte. Aber diese neuen Freiheiten fühlen sich provisorisch an. Am Eingang jedes Einkaufszentrums und jedes öffentlichen Gebäudes stehen Wachen mit Temperaturscannern, bereit, jeden abzuweisen, dessen Temperatur zu hoch ist. Grüne Codes, die sogar erforderlich sind, um U-Bahn zu fahren, werden zum wertvollsten Besitz der Stadt und zu einem, den man leicht wieder verlieren kann. Man muss nur ein Gebäude in etwa zur selben Zeit besucht haben wie jemand, der sich später als infiziert erweist, und der Code wird gelb. Und die Verwaltung von Apartmentkomplexen kann immer noch Bewohner hindern, diese zu verlassen, wenn dort Fälle gemeldet werden, genau wie während des Lockdowns.

Selbst in der ersten Stadt, die sich mit dem Virus konfrontiert sah und deren Eindämmungsmaßnahmen so massiv waren wie nie zuvor in der Geschichte der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, ist die Gefahr immer noch akut. „Asymptomatische Fälle und importierte Fälle stellen immer noch Risiken dar“, erklärte Wang Xinghuan, der Präsident eines der größten Krankenhäuser der Stadt und des Leishenshan-­Hospitals den Reportern bei einer Pressekonferenz, bevor Letzteres geschlossen wurde. Und viele Einwohner sind immer noch empfänglich für das Virus. Wangs Krankenhaus verteilte unter der Belegschaft 3.600 Antikörpertests und weniger als drei Prozent kamen positiv zurück – ein Resultat, das zeigt: „Es gibt keine Herdenimmunität in Wuhan.“ Es gibt nur eine Möglichkeit, die Bevölkerung dauerhaft zu schützen, sagt er: ein Impfstoff.

Wuhans Unternehmen und Geschäfte hoffen dennoch auf eine sichere, aber schnelle Rückkehr zu hemmungslosem Konsum. In den Tagen, bevor die Stadt ihre Geschäfte wieder vollständig öffnete, versammelte sich das Team eines örtlichen Audi-Händlers zum täglichen Meeting. Die etwa 20 Verkäufer waren alle in dunkle Anzüge und Gesichtsmasken gekleidet und standen in ordentlichen Reihen mit gut über einem Meter Abstand nebeneinander. Während ein Manager sie über die Pläne für den Tag unterrichtete, ging ein Kollege durch die Gruppe und sprühte jeden mit Desinfektionsmittel ein, während sie sich drehten, um auch überall etwas davon abzubekommen. „Die Kunden sind vielleicht nicht zuvorkommend genug, Ihnen zu sagen, dass sie sich nicht wohlfühlen, also versuchen Sie, sie nicht in den Laden zu bringen“, erklärte der Manager. „Reden Sie, wenn möglich, einfach am Eingang mit ihnen.“

Seitdem das Geschäft wieder geöffnet hat, verkauft die Filiale etwa sieben Wagen am Tag, trotz all der Beschränkungen genauso viel wie letztes Jahr. Am beliebtesten sind die eher niedrigpreisigen Modelle wie der A3, der für etwa 200.000 Yuan (28.000 Dollar) verkauft wird – die Sorte Wagen, die oft von Familien als Ergänzung zu einem größeren, teureren Modell gekauft wird. „Die Menschen in Wuhan sind nicht gewillt, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen“, sagt der Marketing Director, der nur mit seinem Nachnamen, Pan, genannt werden will. „Und sie wagen es nicht, mit Didi zu pendeln“, der allgegenwärtigen Mitfahr-App. Der Fokus liege nun darauf, so Pan, bei den Menschen nachzufragen, die in der Vergangenheit Interesse an einem Audi gehabt, aber keinen gekauft haben. Jetzt würden sie vielleicht anbeißen. Jetzt habe man vor, die gegenwärtige Belegschaft von etwa 150 Menschen zu erweitern, und die Angestellten würden bald wieder die Gehälter bekommen, die ihnen während des Lockdowns gefehlt haben. Ein weiterer Verkäufer fügt hinzu: „Es ist wie ein Boom.“

Für ein Land, das im Grunde in der Erinnerung von jedem unter 50 einen ununterbrochenen Boom erlebt, sind schmerzhafte wirtschaftliche Entbehrungen auf breiter Ebene völlig unbekannt. Die chinesische Wirtschaft ist im ersten Quartal des Jahres um 6,8 Prozent geschrumpft und der Internationale Währungsfonds schätzt, dass sie 2020 nur um 1,2 Prozent wachsen wird, das schlechteste Ergebnis seit 1976. Die Arbeitslosigkeit in den Städten, ein häufig herangezogener Indikator für die Gesamtarbeitslosigkeit, war im Februar auf ein Rekordhoch von 6,2 Prozent gestiegen, bevor sie im März wieder leicht sank. Und es ist nicht klar, wie Chinas Geschäftsmodell in einer Welt aussehen wird, in der Europa, die Vereinigten Staaten und andere Schlüsselmärkte für chinesische Güter vor einer Wirtschaftskrise stehen.

Der Eingang zum Biandashan-Friedhof in Wuhan führt durch ein beeindruckendes Steintor mit einem Dach im Pagodenstil und dem Fries eines gefährlich aussehenden Drachen. Aber in den vergangenen Wochen war es teilweise verdeckt von mehreren knallgelben Barrieren, umgeben von einem Metallzaun und bewacht von der Polizei. So wurde kontrolliert, wie viele Menschen hindurchgingen. Fast niemand darf bis zum 30. April hinein und selbst dann wird der Zugang vermutlich strikt kontrolliert.

Offiziell sterben in Wuhan keine Patienten mehr an Covid-19, aber wie man mit den Verstorbenen umgeht, ist immer noch ein extrem heikles Thema. Am chinesischen Totengedenkfest Anfang April, an dem sich chinesische Familien traditionell versammeln, um ihren Vorfahren zu gedenken, blieben Wuhans Friedhöfe geschlossen. Beerdigungen sind mindestens bis Ende des Monats verboten und Familienmitglieder von Verstorbenen haben berichtet, dass sie von Regierungsbeamten unter Druck gesetzt wurden, kurz und leise zu trauern. Laut Regierungsaussagen ist dies eine Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit, denn Familientreffen sind eine potenzielle Quelle für Infektionen. Aber die Beschränkungen helfen Peking auch, zu verhindern, dass die Beerdigungen zu einem Ventil werden und die Menschen dort ihren Unmut darüber äußern, wie die Epidemie gehandhabt wurde, oder unangenehme Fragen stellen, wie die nach Chinas wahrer Zahl an Toten.

Was auch immer die Gründe sind, die Verbote beizubehalten – Menschen, die in Wuhan im Bereich psychische Gesundheitsfürsorge arbeiten, haben Angst, dass die Unfähigkeit, geliebte Menschen angemessen zu betrauern, tief greifende und anhaltende psychische Konsequenzen haben wird. Die Bewohner waren die Ersten, die den nie da gewesenen sozialen Shutdown erleben mussten, der sich dann überall auf der Welt wiederholte. Einige von ihnen werden wohl für lange Zeit Spuren davontragen, besonders wenn die Situation noch durch eine lang anhaltende Wirtschaftsschwäche verschlimmert wird.

Yao Jun ist eine derjenigen, die damit kämpfen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die zierliche 50-Jährige ist die Gründerin und Geschäftsführerin von Wuhan Welhel Photoelectric Co., einem Hersteller von Schweißerhelmen und Schutzmasken, die nach Frankreich, Deutschland und in die Vereinigten Staaten exportiert werden. Sie hat am 13. März wieder zu arbeiten begonnen, nachdem sie Genehmigungen von vier verschiedenen Regierungsebenen einholen musste, inklusive ihrem örtlichen Nachbarschaftskomitee, das 15 Tage brauchte, um einzuschätzen, ob Welhel über die Fähigkeiten verfügt, Infektionen zu verhindern. „Wir können uns nicht eine einzige leisten“, so Yao in einem Interview in ihrer Fabrik. Jeder Tag, den die Fließbänder laufen, ist entscheidend: Das Unternehmen Welhel versucht die Bestellungen abzuarbeiten, die es in den ersten Monaten des Jahres nicht erfüllen konnte, auch wenn Yao sich nicht sicher ist, ob die Kunden in den abgeriegelten Märkten in Übersee die Bestellungen entgegennehmen können. Sie hat angesichts dessen, was mit der Weltwirtschaft passiert, keine Ahnung, wann weitere Bestellungen kommen werden.

Trotz der Unsicherheiten versucht sie, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und nicht auf das, was die Stadt gerade durchgemacht hat. „Ich kann mir keine Nachrichten über Mitarbeiter im Gesundheitswesen ansehen, ohne zu weinen“, sagt Yao und kann kaum die Tränen zurückhalten, während sie über einen Jade-Schlüsselanhänger streicht, der an ihrem Telefon befestigt ist. Sie habe Schlafprobleme, weil sie wieder und wieder an die Ärzte und das Pflegepersonal denken müsse, die an Covid-19 gestorben sind: „Ich kenne diese Menschen nicht, aber wenn mir jemand berichtet, was mit ihnen passiert ist, bin ich am Boden zerstört. Diese Toten sind nicht nur Nummern oder fremde Namen für mich. Das sind lebende Menschen.“ Sie glaubt, dass viele ihrer Nachbarn und Kollegen ähnliche Gefühle durchleben, aber vielleicht nicht darüber reden wollen oder können. „Viele andere Menschen sind traumatisiert, erkennen aber das Problem nicht oder können ihre Gefühle nicht ausdrücken“, sagt sie.

Die Pandemie brachte Yao dazu, ihr Leben zu überdenken. Sie hatte das letzte Jahr fast zur Hälfte auf Geschäftsreisen verbracht und häufig Kunden in Übersee besucht. Nun, so sagt sie, will sie viel mehr Zeit zu Hause verbringen und in der Nähe ihrer Familie bleiben. Ihr Sohn sollte im Februar wieder auf die Universität nach Australien zurückkehren, aber er konnte aus offensichtlichen Gründen nicht abreisen. Yao wollte nicht, dass er zurückging.

Selbst nach diesen weltumwälzenden Ereignissen neigt der Mensch dazu, sein Verhalten wieder der Norm anzugleichen. In den Wochen nach dem 11. September hatten die Kommentatoren das Ende der Globalisierung, das Ende von Wolkenkratzern oder der Ironie vorhergesagt – unnötig zu erwähnen, dass all das weiter besteht. Binnen weniger Jahre nach der Weltfinanzkrise waren die Banken und Hauskäufer wieder dabei, riskante Hypothekenpläne aufzustellen, und die Superreichen erreichten und überschritten das Ausmaß an Exzessen, das 2008 bestanden hatte.

Es scheint vernünftig anzunehmen, dass es dieses Mal anders ist. Kaum jemand hat eine so schwerwiegende Pandemie miterlebt und das grundlegende Problem, das sich daraus ergibt – dass jeder, ob Feind, Familie oder Fremder, ein Träger einer tödlichen Infektion sein kann –, wirkt auf einzigartige Weise zersetzend auf die täglichen Interaktionen, die Länder und Ökonomien am Leben erhalten. Ein wirksamer Impfstoff lässt vielleicht noch ein Jahr auf sich warten und angesichts dessen, was die Welt nun darüber gelernt hat, wie schnell ein neuer Krankheitserreger alles zum Stillstand bringen kann, kehrt vielleicht auch danach nicht alles wieder zum Alten zurück. Wuhan war der erste Ort, der beide Hälften der Covid-19-Kurve erlebte. Wie er sich im Nachgang der Krankheit verändert oder auch nicht, wird dem Rest von uns eine wertvolle Lektion sein.

Viele Methoden der Stadt sind vielleicht nicht universell umsetzbar. Wenige andere Regierungen können eine derart umfassende Anti-Virus-Überwachung aufbauen, die China zu implementieren versucht, selbst wenn sie es wollten. Noch weniger Staaten haben vermutlich eine Bevölkerung, die Derartiges tolerieren würde. Aber wie auch immer die Taktiken aussehen: Die Schlüssellektion aus Wuhan könnte sein, dass der Preis, das Virus zu besiegen, eine nie nachlassende Wachsamkeit ist und eine Neuordnung von Prioritäten, die viele nur schwer akzeptieren können.

In einem Starbucks in einer von Wuhans nobleren Einkaufsgegenden spricht Ma Renren, ein 32-jähriger Unternehmer, der eine kleine Marketingfirma betreibt, darüber, dass er diese Fragen gerade für sich selbst zu beantworten versucht. Das Lokal hat geöffnet, verkauft aber nur Getränke zum Mitnehmen und die Kunden dürfen an den Tischen draußen sitzen. Wachleute behalten alles genau im Auge und unterbrechen Unterhaltungen, um den Gästen zu erklären, dass sie nach dem Nippen an ihren Getränken die Masken wieder aufsetzen und nicht zu nahe zusammensitzen sollen. Ma, der eine schicke Oversized-­Brille trägt, eine schwarze Baseballkappe und – natürlich – einen hellblauen, medizinischen Mundschutz, war am 24. Januar zu seinen Eltern gegangen, um sich um sie zu kümmern. Aber bald vermutete er, dass er selbst krank sein könnte. Es war eine Zeit, in der die Emotionen hochkochten: Niemand kannte die tatsächliche Sterberate und die Menschen in Wuhan sahen Berichte in den sozialen Medien über die furchtbaren Bedingungen in den überfüllen Krankenhäusern. „Ich schrieb eines Abends meine letzten Worte auf und beschloss, mich von meinen Eltern zu verabschieden und am nächsten Morgen allein ins Krankenhaus zu gehen“, erinnert sich Ma. „Ich wusste, wenn ich ging, dann konnte ich nicht unbedingt erwarten, wieder zurückzukommen.“

Er überlegte es sich im letzten Moment anders und fühlte sich schließlich wieder besser, auch wenn die psychologischen Wirkungen andauerten: Panikattacken, Kurzatmigkeit und Herzrasen. Nachdem er online die Symptome nachgeschlagen hatte, kam er zum Schluss, dass er an posttraumatischem Stress litt. Erfahrungen wie diese, so Ma, lassen die Menschen introspektiver werden und sich mehr auf die Menschen in ihrem engsten Umfeld konzentrieren. „Wir werden uns mehr Zeit für uns und unsere Familien nehmen“ und für andere Beziehungen, die wichtig genug erscheinen, auch in der Krise an ihnen festzuhalten, sagt er. „Unglücke stellen die Ernsthaftigkeit von Freundschaften auf die Probe.“

Ma versucht nun, sein Unternehmen wieder in die Spur zu bringen. Die Regierung hat ihm einen Steuernachlass gewährt, als Teil ihrer Belebungsmaßnahmen, aber das würde nicht allzu viel helfen. Der Tourismus ist zusammengebrochen und wenige potenzielle Kunden haben genug Geld, um Werbung zu betreiben. Ma hat zwangsläufig seine Ziele heruntergeschraubt und für den Moment ist das für ihn in Ordnung. „Wir haben jahrelang nonstop gearbeitet, jede Gelegenheit ausgenutzt.“ Jetzt „hat jeder, den ich kenne, nur ein Ziel für 2020: zu überleben“.

Dieser Artikel ist erschienen in DER AKTIONÄR Ausgabe 19/2020. Das E-Paper können Sie hier lesen.

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