Der Volkswagen-Konzern sieht sich nach ersten Corona-Fällen zu einem drastischen Schritt gezwungen: Der weltgrößte Automobilhersteller schließt alle Werke. Freitag läuft die letzte Schicht. Dann gehen die Lichter aus. Die Werke in Europa sollen zwei bis drei Wochen im Ruhemodus verharren. Die Folgen sind noch kaum abzusehen.
Die Folgen der Coronavirus-Pandemie schlagen jetzt auch in Deutschland und Europa voll auf die Produktion von Volkswagen durch. Der weltgrößte Autokonzern muss nach ersten Unterbrechungen in China auf dem Heimatmarkt ebenfalls die Fertigung in vielen Werken wegen der Ausbreitung des neuen Erregers vorübergehend aussetzen. Pläne für die einzelnen Fabriken wurden am Dienstag noch abgestimmt. Mit ihren Geschäftszahlen für 2019 schnitt die VW-Gruppe noch gut ab.
An den allermeisten Standorten solle am Freitag (20. März) die letzte Schicht laufen, hieß es aus dem Betriebsrat in Wolfsburg. In den vergangenen Tagen hatte es auch in deutschen Werken erste bestätigte Fälle von Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Virus gegeben, das die Lungenkrankheit Covid-19 auslösen kann. Der Betriebsrat beriet in mehreren Krisensitzungen mit dem Vorstand über die Lage. Die Tochter Audi kündigte an, die Produktion bis Ende dieser Woche einzustellen.
Konzernchef Herbert Diess sagte, es sei nun Priorität, die weitere Virusverbreitung einzudämmen. Man sei "in Diskussionen, wie wir beginnend in dieser Woche die Werke runterfahren". Dabei zeichne sich ab, dass Fabriken in Europa für zwei bis drei Wochen pausieren. Das Unternehmen gehe davon aus, die kommende Zeit insbesondere in Deutschland mit Kurzarbeitergeld überbrücken zu können. Hierzu hatte die Bundesregierung kürzlich Erleichterungen auf den Weg gebracht.
Der VW-Betriebsrat erklärte, bei den Gesprächen sei es vor allem um den "direkten Bereich" gegangen, "wo auf den Montagelinien Schulter an Schulter an unseren Fahrzeugen gearbeitet wird". Mindestabstände, die das Robert-Koch-Institut empfehle, seien an den Stationen aber oft nicht einzuhalten. "Wir dringen hier auf verbindliche Ansagen."
Es gab heftige Kritik am Vorstand, viele Mitarbeiter würden nicht ausreichend beraten. Die Unterbrechung am Freitag komme zu spät. Es sei nicht einzusehen, warum Kollegen "ohne klare Worte aus dem Management für ein paar hundert Autos mehr eine Ansteckung riskieren sollen, die sie dann womöglich früher oder später nach Hause tragen".
In einem Schreiben der Konzernbetriebsräte hieß es: "Das neuartige Coronavirus sorgt für eine unwirkliche Situation. Sie bereitet vielen Menschen Sorgen, etlichen macht sie auch Angst." Auch der Aufenthalt in engen Team-Räumen sei in der Produktion nicht mehr zu halten.
Diess betonte, es sei am wichtigsten, die Gesundheit und Sicherheit der Belegschaft sowie von deren Familien sicherzustellen: "Oberstes Ziel ist es, die Ausbreitung des Coronavirus so stark wie möglich zu verlangsamen." Welche genauen Folgen der Schritt für das weltweit verzweigte Produktionsnetz der VW-Marken hat, war zunächst unklar. Für die USA sieht das Management derzeit noch keine Konsequenzen - anders als etwa für Werke in Spanien, Italien oder der Slowakei.
Die deutschen VW-Standorte waren nach jüngsten Angaben bisher nur von wenigen nachgewiesenen Sars-Cov-2-Infektionen betroffen. Am vorigen Wochenende wurden Fälle in Kassel und im Stammwerk Wolfsburg bekannt. Die Betreffenden sind in Quarantäne. VW verschärfte Hygieneregeln, schloss Kantinen, verbot Dienstreisen und vertagte Versammlungen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte, alle Lebensbereiche müssten sich nun einschränken: "Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen. (...) Wir erwarten den tiefsten Einschnitt in den Alltag in der Geschichte der Bundesrepublik."
Beim größten deutschen Industriekonzern arbeiten weltweit mehr als 670 000 Menschen. Bisher waren die VW-Lieferketten nach offiziellen Angaben nicht nennenswert unterbrochen. Diess sagte, die Werke in Übersee seien "derzeit nicht in kritischem Zustand". Der durch Software-Probleme verzögerte Start des E-Autos ID.3 - wichtigstes Projekt im laufenden Jahr - soll im Sommer nach wie vor stehen, trotz "temporärer Shutdowns". Auch bei einer Pause von drei Wochen sei die geplante Produktion von 100 000 Wagen in Zwickau möglich.
Audi fährt seine Werke in Ingolstadt, Neckarsulm, Belgien, Mexiko und Ungarn bis zum Wochenende schrittweise herunter. Produktionsvorstand Peter Kössler sagte: "Die aktuelle Lage zwingt uns nun zu den angekündigten Maßnahmen und wird uns weiterhin viel Flexibilität und Solidarität abverlangen." Ab Montag solle die Fertigung dann stehen.
In China hatte der VW-Konzern zuletzt fast alle Standorte wieder ans Netz genommen. Laut Finanzvorstand Frank Witter sind die finanziellen Risiken der Viruskrise bisher nicht abschätzbar. Bei der Kernmarke ist eine Auslastung von 60 Prozent nötig, um profitabel zu arbeiten. Im ersten Quartal dürfte sich das operative Konzernergebnis gegenüber dem Vorjahreszeitraum wohl "mindestens halbieren". Eine verlässliche Jahresprognose sei "aktuell schlichtweg unmöglich", so Witter. Was von den vor gut zwei Wochen angekündigten Zielen übrigbleibe, wisse man derzeit nicht.
Die Volkswagen-Vorzugsaktie lag am Nachmittag knapp vier Prozent im Plus, das Papier war am Vortag aber um mehr als 12 Prozent abgestürzt. Mitte Februar lag der Kurs noch über 170 Euro, aktuell ist die Aktie nur wenig mehr als 100 Euro wert.
2019 konnte die Wolfsburger Hauptsparte mit dem VW-Emblem trotz konjunktureller Abkühlung in vielen Ländern noch einen höheren Gewinn einfahren. Das operative Ergebnis vor Sondereinflüssen stieg bei den VW-Pkw von 3,2 auf 3,8 Milliarden Euro. Die Kosten zur Bewältigung der Dieselkrise blieben mit rund 1,9 Milliarden Euro ungefähr auf Vorjahresniveau.
Für Porsche meldete der Konzern vor Sonderfaktoren ein leichtes Gewinnplus um 2,4 Prozent auf 4,2 Milliarden Euro. Auch Skoda, Seat und Bentley sowie die Lkw-Töchter Scania und MAN verbesserten sich. Bei Audi sank der Betriebsgewinn dagegen von 4,7 auf 4,5 Milliarden Euro, bei den leichten Nutzfahrzeugen von 780 auf 510 Millionen Euro.
Zum Gesamtkonzern waren die Eckdaten bereits bekannt. Die VW-Gruppe konnte 2019 ihren Gewinn unterm Strich um 12,8 Prozent auf 13,3 Milliarden Euro steigern. Der Umsatz legte um 7,1 Prozent auf 252,6 Milliarden Euro zu. Gemessen an den Auslieferungen blieb sie mit 10,97 Millionen verkauften Autos größter Hersteller vor Toyota .
Die weitere Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Lage stimmt VW eher pessimistisch. "2020 ist ein sehr schwieriges Jahr", meinte Diess. Branchenexperte Frank Schwope von der NordLB warnte: "Sollte sich die Coronavirus-Krise deutlich verschärfen - wovon auszugehen ist -, führt dies zu Lieferengpässen, Produktionsausfällen, aber auch zu starken Kaufrückgängen, was bis Jahresende nicht aufzuholen wäre."
Für das abgelaufene Jahr bekommt Konzernchef Diess etwas weniger Gehalt als für 2018. Der Vorstandsvorsitzende soll - Rentenansprüche herausgerechnet - insgesamt rund 7 Millionen Euro erhalten. Im Jahr zuvor hatten die Zuflüsse noch mehr als 7,6 Millionen Euro betragen. Die Werte sind aber nicht direkt vergleichbar. Insgesamt streichen die Konzernvorstände über 45 Millionen Euro ein. Für die 100 000 Tarifbeschäftigten der VW AG gibt es einen Bonus von je 4950 Euro.
Mit Material von dpa-AFX