BERLIN/BIELEFELD (dpa-AFX) - Die Corona-Sonderkonjunktur für die deutsche Fahrrad-Branche ist vorbei. Die Lager bei den Händlern sind übervoll, die Hersteller können nach überwundenen Lieferkettenproblemen weit mehr Fahrräder montieren, als am Markt absetzbar scheinen. Das wurde am Mittwoch bei der gemeinsamen Presse-Konferenz der Verbände der Zweiradindustrie (ZIV) und des Fahrradhandels (VDZ) deutlich. Interessierte Kunden können nach drei Jahren mit knappem Angebot und kaum verhandelbaren Preisen nun eher mit kostengünstigen Angeboten rechnen. Eine weiterhin starke Nachfrage erwarten die Experten lediglich bei den E-Bikes.
Die Situation knapper Ware mit extrem stabilen Preisen habe sich ab Herbst 2022 ins Gegenteil gewandelt, berichtete Thomas Kunz vom Handelsverband VDZ. Heimische Hersteller wie Importeure lieferten "schlagartig" große Mengen Räder aus, so dass Modelle der Jahrgänge 2021, 2022 und teilweise schon 2023 nun zeitgleich in den Läden standen. Nur "sehr vereinzelt" hätten die Händlern ihre Bestellungen stornieren oder zurückstellen können. Sie mussten letztlich alles abnehmen, was sie in den Corona-Jahren zunächst vergeblich bestellt hatten. Laut ZIV wurden im vergangenen Jahr in Deutschland 820 000 Räder mehr ausgeliefert als verkauft.
Kunz schildert die Folgen der Bike-Flut: Nach der extremen Knappheit gibt es nun im Handel Warenbestände und verbindliche Vororder, die weit über den tatsächlichen Jahresbedarf 2023 hinausgehen. "In der Folge stellten sich bei fast allen Händlern Platz- und Liquiditätsprobleme ein", berichtet der Verband. Abverkäufe mit relativ hohen Preisnachlässen hätten zunächst bei Online-Anbietern begonnen und seien nun auch beim Fachhandel über den Jahreswechsel fortgesetzt worden.
Vor allem bei nicht-motorisierten Fahrrädern wissen die Händler nicht, wohin die Reise bei knapperen Freizeit-Budgets der Käufer gehen soll. Im vergangenen Jahr hatte fast jedes zweite in Deutschland verkaufte Fahrrad einen Elektromotor. 2,2 Millionen E-Bikes bedeuteten einen Zuwachs von 10 Prozent und einen Absatzrekord, während die herkömmlichen "Bio-Bikes" um 300 000 auf 2,4 Millionen Einheiten zurückfielen. Der Absatzrekord von rund 5 Millionen Fahrräder aus dem ersten Corona-Jahr 2020 blieb so bestehen.
Die Hoffnungen der Branche ruhen immer mehr auf den E-Bikes, die möglicherweise im laufenden Jahr erstmals die herkömmlichen Räder bei den Verkaufszahlen überholen werden. Dazu tragen auch immer mehr Angebote zum Rad-Leasing über die Arbeitgeber bei. Der Bestand der motorisierten Fahrräder ist bereits auf mehr als 10 Millionen Stück angewachsen von insgesamt knapp 83 Millionen Fahrräder in Deutschland. Sie seien "zentraler Treiber" für einen weiter wachsenden Markt, sagt ZIV-Geschäftsführer Burkhard Stork. Besonders gefragt sind derzeit Mountain-Bikes mit starkem E-Antrieb.
"Leasing hat sehr geholfen, das Fahrrad als hochwertiges Verkehrsmittel zu etablieren. Mittlerweile ist das E-Bike ein Statussymbol und wird oft einem Sportwagen vorgezogen", sagt Volker Dohrmann vom Fahrradhersteller Stevens Bikes. Die Kunden lassen sich ihre neuen Gefährte entsprechend einiges kosten: 3570 Euro nennt der Fachhandel als durchschnittlichen Preis, die Industrie kommt auf 2800 Euro über sämtliche Vertriebswege.
Das Angebot bei den Händlern ist umfangreich wie noch nie, berichtet VDZ-Vize Tobias Hempelmann. "Die Preise sind extrem stabil geblieben, so dass die Kunden ein sehr gutes Angebot vorfinden werden." Eine eingetrübte Konsumlaune angesichts von Krieg, Inflation und Heizungssorgen fürchtet der engagierte Einzelhändler aus Lippe nicht. "Am Auto, am Urlaub und am Fahrrad wird in Deutschland nicht gespart." Engpässe wie in den Corona-Jahren werde es voraussichtlich nicht geben, so dass zum Ende der Saison auch wieder mit mehr Rabattaktionen zu rechnen sei. "Da werden wir auf das Niveau von 2019 zurückkehren."
Die Zweirad-Industrie im Hochlohnland Deutschland hat längst die Konsequenzen gezogen und baute 2022 hierzulande schon fast doppelt so viele E-Bikes (1,72 Mio Stück) wie herkömmliche Fahrräder (0,9 Mio). Letztere kommen mehrheitlich aus Asien auf den deutschen Markt und erzielen im Fachhandel einen durchschnittlichen Preis von 714 Euro./ceb/DP/mis
Quelle: dpa-AFX