GENF (dpa-AFX) - Die internationalen Airlines zittern um ihr Sommergeschäft. Nur wenige Wochen nach seiner jüngsten Prognose hat der Branchenverband IATA am Mittwoch ein deutlich verschärftes Szenario vorgestellt, sollten die Regierungen wegen der Coronavirus-Mutationen länger an harten Einreisebeschränkungen festhalten. Im schlimmsten Fall werde sich der Luftverkehr im laufenden Jahr nur sehr langsam erholen und im Gesamtjahr möglicherweise nur 38 Prozent des Vorkrisen-Niveaus erreichen. "Das würde ein ohnehin hartes Jahr noch härter machen", sagte IATA-Chef Alexandre de Juniac.
Eigentlich hatte der Verband nach dem Corona-Schock von 2020 damit gerechnet, das Fluggeschäft in diesem Jahr auf etwa die Hälfte des Niveaus von 2019 hochfahren zu können. Die Virus-Mutationen und immer neue Reisebeschränkungen der Nationalstaaten könnten das aber zunichte machen, warnte IATA-Chefökonom Brian Pearce. "Die Risiken sind gestiegen." Man nehme die Prognose aus dem November nicht zurück, erklärte der scheidende IATA-Präsident Juniac. Es handele sich um ein Szenario für den schlimmsten Fall.
Risiken sind nicht nur die aktuellen Schwierigkeiten bei der Produktion und Verteilung der Impfstoffe, sondern auch die Frage, ob diese gegen die neuen Mutationen überhaupt noch wirksam sein werden. Dies müssten Tests in den kommenden Wochen belegen, sagte Pearce. Die Regierungen könnten zudem dazu neigen, erst beim Erreichen der sogenannten Herden-Immunität gegen die Krankheit Covid-19 die Grenzen wieder zu öffnen. Ursprünglich hatte die IATA angenommen, dass bereits bei einem wirksamen Schutz der besonders gefährdeten Gruppen die Beschränkungen gelockert würden. Der Airline-Verband setzt sich zudem dafür ein, über Impf- und Testnachweise Quarantänen für die Reisenden möglichst zu vermeiden.
Für weite Teile der Welt sei die Herdenimmunität frühestens im Jahr 2022 zu erwarten, in Indien und Russland sogar noch später, sagte IATA-Ökonom Pearce unter Verweis auf medizinische Studien. Für die EU liegt die Termin-Erwartung im September dieses Jahres, nach den USA, Kanada und Großbritannien. Man gehe auch wegen der besseren Versorgung mit Impfstoff davon aus, dass zunächst die Verbindungen zwischen den entwickelten Industrieländern wieder aufgenommen werden, voraussichtlich zuerst über dem Nordatlantik. Grundsätzlich werde sich die Langstrecke aber langsamer erholen als Kontinentalflüge.
"Wir haben den Sommer-Urlaub noch nicht aufgegeben", sagt der Chef der europäischen Lotsen-Organsiation Eurocontrol, Eamonn Brennan. Er kann am europäischen Himmel aber aktuell auch keine Hoffnungsschimmer entdecken. Nach den Eurocontrol-Daten gab es am 1. Februar 66 Prozent weniger Flüge als vor einem Jahr - fast nur noch Frachtmaschinen. Das Sitzangebot lag 75 Prozent unter dem Niveau des Vorjahres und fast zwei Drittel (61 Prozent) der Flotte stand am Boden. Weitere Impf-Verzögerungen und neue Viruswellen könnten die Situation in einem ebenfalls frisch erarbeiteten Negativ-Szenario so verschärfen, dass noch im Juni nur 30 Prozent der sonst üblichen Flüge unterwegs wären.
Nach einer Analyse des "Capa Centre for Aviation" ist der Flugverkehr in Europa noch schwerer getroffen als anderswo. In den 54 Ländern der Europa-Region sei Ende Januar nur 56 Prozent der Flotte im Einsatz gewesen, verglichen mit einem globalen Durchschnitt von 65 Prozent. "Da die nationalen Lockdowns weiter gehen und Reiserestriktionen verschärft werden, sind weitere Einschnitte zu erwarten", berichteten die Capa-Experten in einer Analyse vom 31. Januar. "Wenn die Nachfrage wieder steigt, ist zu erwarten, dass die Billigflieger vorn liegen."
Weltweit waren im vergangenen Jahr nur noch 1,8 Milliarden Menschen im Flugzeug unterwegs, nach 4,5 Milliarden Menschen 2019, wie die IATA schon im Dezember geschätzt hatte. Dies machte mehr als 15 Jahre Passagierwachstum zunichte. Zuletzt waren weltweit 2003 weniger Passagiere gewesen, damals knapp 1,7 Milliarden. Die geflogenen Passagierkilometer gingen auf das ganze Jahr gesehen um fast 66 Prozent zurück. Für den Monat Dezember betrug der Rückgang sogar 70 Prozent./oe/ceb/DP/he
Quelle: dpa-AFX