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BERLIN (dpa-AFX) - Hinterher ist man immer schlauer, so hätte es die Kanzlerin auch ausdrücken können. Angela Merkel sagt: "Wenn man das Wissen von heute hat, stellt man sich berechtigt einige Fragen. Man hatte damals nur dieses Wissen nicht." Es geht um einen der größten Bilanzskandale der deutschen Nachkriegszeit, den mutmaßlichen Milliardenbetrug von Wirecard
- und verteidigt ihre eigene Rolle in dem Fall. Politisch kann die
Befragung am Freitag für die CDU-Politikerin kaum gefährlich werden, das war schon vorher klar. Doch unangenehm ist sie allemal.
Offensichtlich ist es nicht, was die Kanzlerin mit dem Skandal zu tun hat. Das damalige Dax
Merkel hatte Wirecard 2019 bei einem Besuch in China auf höchster Ebene angesprochen. Das Unternehmen wollte in den dortigen Markt einsteigen. Damals gab es bereits negative Medienberichte über Wirecard. Merkel jedoch betont: "Es gab damals allen Presseberichten zum Trotz keinen Anlass, von schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei Wirecard auszugehen." Niemand habe ihr gesagt: "Hände weg von Wirecard." Das Bemühen des Unternehmens um Markteintritt in China habe sich mit den Zielen der Bundesregierung zur Marktöffnung gedeckt. Es sei ganz normal, dass sie sich bei bilateralen Kontakten für die Interessen der deutschen Wirtschaft einsetze.
Die Kanzlerin braucht nicht viele Akten für ihren Auftritt im Untersuchungsausschuss: ein dünner schwarzer Ordner, ein paar locker bedruckte Seiten, von denen sie ihr Eingangsstatement abliest. Die Atmosphäre ist respektvoll. Die Abgeordneten fragen weniger harsch und aggressiv als am Vortag, als Vizekanzler Olaf Scholz aussagen musste. Der Linken-Finanzpolitiker Fabio De Masi erklärt Merkel sogar freundlich fachliche Details zum Finanzmarkt.
Als Zuhörer lernt man aber vor allem einiges über die Arbeitsweise einer Kanzlerin: Bei Reisen und bilateralen Treffen würden regelmäßig mehrere Unternehmen angesprochen, berichtet sie. "Maximal ein Satz zu jedem Unternehmen", der könne aber lang sein und viele Kommas enthalten. Es wird auch persönlich: Sie müsse in privaten Gesprächen extrem aufpassen, sagt Merkel, "ob wir jetzt die Seite wechseln und es fachlich wird".
Warum berichtet Merkel das? Kurz vor ihrer Reise nach China traf sie sich mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Guttenberg war Lobbyist für Wirecard, wies bei dem Treffen auch auf die Interessen des Unternehmens in China hin - auch wenn sich Merkel nach eigener Aussage nicht daran erinnert, dass der Name fiel. Sie sei jedenfalls sehr froh, "dass ich wach war" bei dem Gespräch: Sobald es fachlich wurde, verwies die Kanzlerin auf ihren Wirtschaftsberater, an den sich Guttenberg wenden sollte. Sie könne ja schließlich nicht in China eine Bemerkung machen, nur weil sie eine Person gut kenne, betont sie.
Guttenberg schrieb Merkels Wirtschaftsberater, der Wirecard daraufhin in die Unterlagen für den China-Besuch aufnahm. Von dem Beratermandat ihres ehemaligen Ministers bei Wirecard habe sie nichts gewusst, macht Merkel deutlich. Fühle sie sich von ihm getäuscht, fragen die Abgeordneten. "Nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber er war ganz interessengeleitet da." Und das schätze sie nicht. Auch Abgeordnete von SPD und Opposition kritisieren den Lobbyismus von Guttenberg scharf. Vor allem aber Hans Michelbach, der ebenfalls in der CSU ist, zeigt sich beschämt.
"Die Kanzlerin war sicher nicht bösgläubig, aber es war politisch unvorsichtig, dass sie sich für das Unternehmen in China eingesetzt hat", sagt der FDP-Finanzpolitiker Florian Toncar. Die Abgeordneten gehen davon aus, dass Wirecard dadurch Kritiker beruhigen konnte - und dass der Bilanzskandal ohne den Einsatz der Kanzlerin vielleicht früher aufgedeckt worden wäre.
Der Untersuchungsausschuss will aufdecken, wer die politische Verantwortung für den Skandal trägt. Merkel sei es sicher nicht, betonen Abgeordnete schon vor der Befragung. Sie haben eher den SPD-Politiker Scholz im Visier. Die Kanzlerin sei von ihren Leuten "hereingeritten" worden, sagt der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz. Aber natürlich sehe es "ziemlich blöd aus, wenn die Kanzlerin im Ausland für ein Unternehmen wirbt, das tief im kriminellen Sumpf steckt". In der Bundesregierung habe die notwendige Distanz gefehlt.
Die Kanzlerin selbst betont, generell gelte, "dass in allerletzter Konsequenz ich als Bundeskanzlerin Verantwortung trage". Tatsächlich aber sei die ganze deutsche Aufsicht objektiv nicht gut genug aufgestellt gewesen. "Das ist ganz klar." Finanzminister Scholz hat bereits eine Reform der Bilanzprüfung vorgeschlagen. Der Chef der Finanzaufsicht Bafin, Felix Hufeld, musste seinen Posten räumen, ebenso weitere Aufseher und Wirtschaftsprüfer - auch Dank der Aufklärungsarbeit des Ausschusses.
Es gebe keinen hundertprozentigen Schutz vor kriminellen Machenschaften, macht Merkel deutlich. Gleichwohl müsse alles getan werden, um die Wiederholung eines solchen Falls zu verhindern. Ursprünglich sollte sie die letzte Zeugin des Untersuchungsausschusses sein, der Höhepunkt zum Schluss. Doch die Abgeordneten haben noch weiteren Fragebedarf und sich den früheren Anwalt von Wirecard eingeladen. In der unglaublichen Geschichte Wirecards ist Merkel letztlich wohl doch nur ein kleines Licht./tam/DP/mis
Quelle: dpa-AFX