BERLIN (dpa-AFX) - Die wachsende vierte Corona-Welle mit mehr als 70 000 Neuinfektionen an einem Tag setzt die geplante Ampel-Koalition noch vor Amtsantritt immer stärker unter Zugzwang. Mehr als 100 000 Menschen sind in Deutschland an oder mit Covid-19 gestorben.
"Wir starten möglicherweise diese Regierung in der schwersten Gesundheitskrise, die Deutschland jemals hatte", sagte Grünen-Chef Robert Habeck am Donnerstag in Berlin. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte vor überlasteten Kliniken: "Hier zählt jeder Tag." Aus den Ländern kommen immer mehr Rufe nach konsequentem Gegensteuern und Spekulationen über bevorstehende Lockdown-Maßnahmen. Mit der Zulassung des Biontech
Die europäische Arzneimittelbehörde EMA stufte den Impfstoff am Donnerstag als sicher und effektiv ein. Kinder ab fünf Jahren sollen nur ein Drittel der Erwachsenen-Dosis erhalten und zwei Dosen im Abstand von drei Wochen. In Deutschland stehen nach Angaben des amtierenden Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ab 20. Dezember 2,4 Millionen Dosen für Kinder zur Verfügung. Viele Kinderärzte orientieren sich an der Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko), die zu dem Kinder-Impfstoff noch aussteht.
Die ungebremste Verbreitung des Virus überschattet unterdessen die Bildung der neuen Regierung immer mehr. Laut Grünen-Chefin Annalena Baerbock wollen sich SPD, Grüne und FDP zehn Tage Zeit geben, um über mögliche schärfere Maßnahmen zu beraten. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) pocht auf schnelle neue Bund-Länder-Beratungen - auch weil das neue Infektionsschutzgesetz "der derzeitigen Situation nicht angemessen" sei. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) schließt einen Lockdown vor Weihnachten nicht mehr aus.
"Wir haben uns zehn Tage Zeit gegeben, um zu sehen, sind wir bei den Booster-Impfungen, sind wir bei den Schutzmaßnahmen weit genug gekommen", sagte Baerbock am Mittwochabend in der ARD. Der geplante neue Bund-Länder-Krisenstab solle die Situation täglich unter die Lupe nehmen. Der voraussichtliche künftige Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte so ein neues Gremium angekündigt. Nach zehn Tagen werde man analysieren, ob weitere Maßnahmen nötig seien. Bisher ist geplant, dass Bund und Länder am 9. Dezember überprüfen, ob das von den Ampel-Parteien geänderte Infektionsschutzgesetz reicht.
Durch das neue Gesetz haben die Länder keine Möglichkeit mehr für Ausgangssperren oder Schließungen von Schulen, Kitas, Betrieben und Geschäften in einem Landkreis oder gar einem ganzen Bundesland. Kontaktbeschränkungen, Vorschriften zum Abstand halten, die Maskenpflicht und auch Zutrittsbeschränkungen nur auf Geimpfte und Genesene (2G) sind weiter möglich.
Wieder meldete das Robert Koch-Institut Corona-Rekorde: 75 961 Neuinfektionen gab es in 24 Stunden, die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei 419,7 Infektionen pro 100 000 Einwohner. Am rasantesten verbreitet sich das Virus in Sachsen mit einer Inzidenz von 1074,6. Die Zahl der Toten stieg bundesweit um 351 auf 100 119. Aktuell waren noch 2334 Intensivbetten frei.
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus sagte: "Wir müssen jetzt intensiv handeln." Die bisher geplante Bewertung am 9. Dezember sei "viel zu spät", so Brinkhaus in der ARD. Söder sagte der "Süddeutschen Zeitung": "Jede Möglichkeit, die derzeitige Krisenlage zu verbessern, muss genutzt werden." Merkel machte deutlich, dass sie die aktuelle Entwicklung als sehr gefährlich einschätzt. "Wir brauchen mehr Beschränkungen von Kontakten", sagte sie. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur hatte die geschäftsführende Kanzlerin den Spitzen der Ampel-Parteien am Dienstag angeboten, die Maßnahmen zu verschärfen. Eine gesetzliche Notbremse oder klare Lockdown-Vereinbarungen mit den Ländern wären nahe liegend, hieß es.
Nach Ansicht von Mecklenburg-Vorpommerns Gesundheitsministerin Stefanie Drese (SPD) müsse ein weiterer Lockdown in Betracht gezogen werden. "Ich kann in dieser aktuellen Pandemie-Lage gar nichts mehr ausschließen", sagte Drese der dpa.
Die Luftwaffe hält in Köln zwei Flugzeuge die Verlegung von Intensivpatienten in der Corona-Pandemie bereit. In Bayern, Thüringen und Sachsen begannen die Vorbereitungen für die Verlegung von 54 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen in aktuell weniger stark betroffenen Gebieten im Norden und Westen Deutschlands. Aus Sicht der bayerischen Krankenhausgesellschaft wird eine bundesweite Verlegung von Intensivpatienten aber nur kurzfristig helfen: "Die momentan noch vorhandenen Intensivkapazitäten im Norden werden uns nur einige Wochen helfen können, weil auch dort die Belegung steigt." Planbare Operationen sollen nach dem Willen der Gesundheitsminister vom Bund und Ländern bundesweit verschoben werden.
Bei SPD, Grünen und FDP geht man davon aus, dass die neue Koalition mitverantwortlich gemacht wird, wenn düstere Szenarien stark steigender Kranken- und Totenzahlen in den kommenden Wochen eintreten, wie es in Koalitionskreisen hieß. Offen blieb, wann der Bund-Länder-Krisenstab im Kanzleramt eingerichtet wird. Laut Scholz soll das Gremium vor Amtsantritt der Ampel beginnen.
Gesundheitsminister Spahn schrieb angesichts der neuen Totenzahlen auf Twitter: "Wir dürfen das nicht einfach so hinnehmen." Etwas Mut mache der Blick auf das Impfen: Binnen zwei Tagen habe es nun knapp 200 000 Erstimpfungen gegeben. 626 000 Booster-Impfungen am Vortag seien ein neuer Tagesrekord.
Die Gesundheitsminister der Länder forderten vom Bund unterdessen bereits konkret eine Änderung am neuen Infektionsschutzgesetz - und zwar hinsichtlich der neuen Testpflichten in Praxen, Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Für geimpfte und genesene Beschäftigte sei eine Testung zwei Mal wöchentlich mittels Selbsttest ausreichend, heißt es in einem einstimmigen Beschluss. Nach dem neuen Gesetz müssen sich auch Geimpfte täglich testen lassen. Die Länder kündigen an, dass die neuen Regeln "nicht angewendet werden"./bw/DP/he
Quelle: dpa-AFX