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KIEW/BRÜSSEL (dpa-AFX) - Trotz gegenteiliger Befürchtungen in Deutschland hat Russland seine Gaslieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 wieder aufgenommen. In Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern) kam nach Wartungsarbeiten an der Leitung am Donnerstagmorgen plangemäß wieder russisches Erdgas an. Wie vor dem zehntägigen Stopp war der Durchfluss aber auf etwa 40 Prozent der Kapazität gedrosselt. Offen bleibt, ob die Führung um Präsident Wladimir Putin die Exporte nach Deutschland und Westeuropa nicht doch irgendwann kappt. "Russland erweist sich zunehmend als Unsicherheitsfaktor im Energiesystem", sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).
Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine sollte voraussichtlich am Donnerstag ein weiteres Sanktionspaket der Europäischen Union in Kraft treten. Es verbietet unter anderem die Einfuhr von russischem Gold. Putins Sprecher Dmitri Peskow sprach ironisch von einer "beneidenswerten Beharrlichkeit" der EU; an der Moskauer Haltung änderten die Strafmaßnahmen nichts. Während in der Ukraine die Gefechte weitergingen, drohte Putins Vorgänger Dmitri Medwedew damit, dass das Land völlig von der Landkarte verschwinden könnte.
Skepsis über Zukunft der Gaslieferungen
In die Erleichterung mischte sich in Energiebranche und Politik Skepsis wegen der Zukunft der Gaslieferungen aus Russland. Die Gasmenge der kommenden Monate dürfte Auswirkungen auf Industrie wie Privatkunden haben, weil sie sich aller Voraussicht nach auf die Gaspreise niederschlägt. Sie könnte auch ausschlaggebend dafür sein, wie weit Deutschland seine Gasspeicher vor der kalten Jahreszeit auffüllen kann und ob es zu einer Mangellage kommt.
"Mit den reduzierten Gasmengen aus Russland können die angestrebten Füllstände erreicht werden, die Lage auf dem Gasmarkt bleibt aber angespannt", sagte der Vorstand des Verbands Zukunft Gas, Timm Kehler. Deutschland müsse Energie sparen und den Betrieb der ersten Terminals für Flüssiggas (LNG) als Alternative sichern, "damit wir den Winter unter den aktuellen Annahmen gut überstehen".
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) warnte vor einer trügerischen Sicherheit. Niemand könne ausschließen, dass Russland bereits morgen einen neuen Grund finde, um Gaslieferungen nach Europa zu drosseln oder ganz einzustellen. Auch der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen rief dazu auf, sich auf diese Möglichkeit vorzubereiten. "Putin spielt mit unserer Abhängigkeit, die besteht, und er spielt auch mit unserer Angst", sagte er. Deutschland müsse lernen, sich diesen machtpolitischen Spielen zu verweigern.
Die Energieökonomin Claudia Kemfert sah eine vorläufige Entspannung für den deutschen Gasmarkt. Moskau könne "den Bogen nicht überspannen", sagte die Energie-Expertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Russland brauche die Einnahmen. Zudem solle Deutschland auch nicht zu schnell unabhängig von russischem Gas werden; die Erpressbarkeit solle in Moskauer Sicht erhalten bleiben.
Russische Angriffe in der Ukraine
Das russische Militär beschoss nach eigenen Angaben mehrere Ziele im Süden und im Osten der Ukraine. In den Gebieten Mykolajiw und Donezk seien in den vergangenen 24 Stunden neun Kommandoposten getroffen worden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow, am Donnerstag. Zudem seien sechs Waffenlager zerstört und ein Kampfflugzeug sowie ein -hubschrauber abgeschossen worden. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben nicht.
Moskau hatte am Mittwoch damit gedroht, in der Ukraine noch mehr Gebiete einnehmen zu wollen, als derzeit besetzt sind. Außenminister Sergej Lawrow begründete das mit der zunehmenden Reichweite der vom Westen gelieferten Waffen für die Ukraine. Der frühere Kremlchef Medwedew schrieb am Donnerstag, dass die Ukraine vernichtet werden könnte. Auf einer Liste von Dingen, "an denen Russland nicht schuld ist", lautete ein Punkt: "Daran, dass die Ukraine infolge aller Geschehnisse die Reste staatlicher Souveränität verlieren und von der Weltkarte verschwinden könnte". Das Nachbarland habe sich schon 2014 unter die "direkte Kontrolle des kollektiven Westens" begeben, behauptete der jetzige Vizesekretär des russischen Sicherheitsrates.
CIA-Chef: Putin ist "zu gesund"
Großbritannien kündigte an, der Ukraine in den kommenden Wochen Hunderte Drohnen sowie Panzerabwehrwaffen und Artilleriegeschütze zu schicken. Dazu kämen Artillerieaufklärungsradar und 50 000 Schuss Munition für alte Artilleriegeschütze aus Sowjetzeiten. Die USA sagten Kiew am Mittwoch weitere Himars-Mehrfachraketenwerfer zu.
In den fast fünf Monaten Krieg gegen die Ukraine sind nach Schätzungen des US-Auslandsgeheimdienstes CIA schon 15 000 russische Soldaten getötet worden. Etwa dreimal so viele Russen seien vermutlich verwundet worden, sagte CIA-Direktor William Burns bei einer Sicherheitskonferenz in Aspen im US-Bundesstaat Colorado. "Und auch die Ukrainer haben gelitten - wahrscheinlich etwas weniger. Aber, Sie wissen schon, erhebliche Verluste", sagte Burns. Offizielle Angaben zu Verlusten machen weder Russland noch die Ukraine.
Burns machte sich lustig über Spekulationen zu Putins Gesundheit. "So weit wir das sagen können, ist er viel zu gesund", sagte er. Dies sei aber keine offizielle Einschätzung seines Dienstes.
Russische "Nachtwölfe" auf EU-Sanktionsliste
Im EU-Amtsblatt sollte voraussichtlich am Donnerstag das siebte Sanktionspaket der EU veröffentlicht werden. Dies ist der letzte Schritt, bevor die Strafmaßnahmen in Kraft treten. Erwartet wird, dass auch Mitglieder der russisch-nationalistischen Motorradrocker "Nachtwölfe" betroffen sind und nicht mehr in die Europäische Union einreisen dürften. Zudem würde ihr Vermögen in der EU eingefroren. Das Paket umfasst auch ein Einfuhrverbot für Gold aus Russland, dessen Auswirkungen auf Deutschland aber wohl überschaubar sind. "Bislang bemüht sich die EU mit beneidenswerter Beharrlichkeit, immer neue Sanktionen zu schaffen", kommentierte Kremlsprecher Peskow. Dabei hätten Sanktionen noch nie erreicht, dass ein betroffenes Land seine Haltung ändere, behauptete er.
Die ukrainische Zentralbank wertete am Donnerstag die Landeswährung Hrywnja im Vergleich zum US-Dollar um 25 Prozent ab. Dies sei mit Blick auf die veränderte wirtschaftliche Lage in Kriegszeiten und den stärker gewordenen US-Dollar geschehen, begründete die Notenbank den Schritt. Der Wechselkurs war kurz nach dem russischen Einmarsch Ende Februar von der Zentralbank eingefroren worden./fko/DP/ngu
Quelle: dpa-AFX