FRANKFURT (dpa-AFX) - Gerichts-Übersetzerin Eva (Katharina Stark) kann Polnisch, doch das Vokabular des unvorstellbaren Grauens muss sie erst langsam lernen. "An diesem Tag - es war warm oder schwül - da sollten wir alle Fenster schmücken, alle Fenster der Herberge mit der Nummer 11", überträgt sie Aussagen eines KZ-Überlebenden naiv.
"Dann führten sie die 850 sowjetischen Gäste in den Keller der Herberge hinab. Sie warteten die Dunkelheit ab, damit sie das Licht besser sehen konnten. Dann warfen sie das Licht durch den Keller in die Lüftungsschächte und schlossen die Türen. Am nächsten Morgen öffneten sie die Türen wieder. Wir mussten als Erste hineingehen. Die meisten der Gäste waren erleuchtet." Im zweiten Anlauf schlägt die junge Frau hektisch andere Bedeutungen nach: "Es heißt nicht Gäste, sondern Häftlinge. Keine Herberge, sondern ein Block. Und kein Licht, kein Erleuchten." Die Häftlinge in Auschwitz waren erstickt, durch Gas. Die Serie "Deutsches Haus" auf Disney+
Der Fünfteiler (Start 15. November) ist keine Holocaust-Serie im engeren Sinne. "Deutsches Haus" nach dem Bestseller von Annette Hess ("Ku'damm 63") rollt die Geschehnisse anhand der Frankfurter Auschwitz-Prozesse der 1960er Jahre gegen ranghohe NS-Täter auf.
Im Mittelpunkt steht die Familie von Eva Bruhns, ihren Eltern Edith (Anke Engelke) und Ludwig (Hans-Jochen Wagner) sowie ihrer älteren Schwester Annegret. Eva ist im Krieg geboren worden und hat keine Erinnerungen an ihre frühe Kindheit unter der Nazi-Herrschaft.
Das Leiden jüdischer Menschen in den deutschen Lagern war für ihren Jahrgang nie Thema. Nicht in der Schule, erst recht nicht bei ihren Eltern, zwei Gastronomen. Doch nach und nach entdeckt Eva, dass ihre Eltern Teil einer großen Maschinerie waren. Und sie begreift, was die dunkle Rauchsäule auf Kinderbildern ihrer Schwester zu bedeuten hat.
Disney hat mit dieser Streamingserie ein Projekt aufgegriffen, das man dem US-Konzern nicht sofort zutrauen würde. Die Darstellerriege ist erstklassig. Anke Engelke beweist ein weiteres Mal ihr Geschick für ernste, ja abgründige Rollen. Heiner Lauterbach gibt den pedantischen Lageraufseher mit dunkler Verve. Henry Hübchen überzeugt als NS-Verfolgter. Iris Berben absolvierte einen so überzeugenden Auftritt als Holocaust-Überlebende Rachel Cohen, dass am Set viele aus der Crew nach der Szene spontan in Tränen ausbrachen. Abwechselnd schreit sie die leugnenden Angeklagten verzweifelt an: "Du hast nichts gewusst. Du hast nichts gewusst. Und Du nicht. Alle habt Ihr nichts gewusst. Du hast auch nichts gewusst von den Vergasungen."
Ein besonderer Glücksgriff ist Katharina Stark in ihrer ersten großen Hauptrolle. Sie habe großes Lampenfieber gehabt, sagt sie: "Auch weil das Thema einfach so wichtig ist und es wichtig war, da die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sich dem Thema möglichst so zu nähern, dass man irgendwie einen Beitrag schafft." Die 25-Jährige lernte für die Rolle eigens Polnisch. Sie könne zwar noch nicht völlig fließend sprechen. "Aber ich habe eine Coachin zur Seite gestellt bekommen in Polen und das dann dort gelernt." Sie habe mit Zungenbrechern zu kämpfen gehabt. "Aber Zungenbrecher waren auch so ein bisschen mein Hobby." Ihre Großmutter, die etwa dem Alter der Hauptfigur Eva entspricht, habe mit ihr viel über diese Zeit gesprochen, ihr auch passende Kleidung fürs Casting zusammengestellt, sagte Stark.
Mit großer Überzeugungskraft stellt die Jung-Schauspielerin eine Frau aus einer Generation dar, die Fragen zu stellen beginnt. In einer Zeit, in der ein dröhnendes Schweigen über die Vergangenheit herrscht.
Berben über diese Jahre: "Das ist mir sehr bewusst, dieses Schweigen. Ich bin 1950 geboren. Also bin ich in einer Zeit großgeworden, in der das Schweigen wirklich fassbar, hörbar, sehbar war. Man wollte nicht reden. Man wollte auch in der Schule nicht reden. Auch im Geschichtsunterricht ist die Thematik wirklich ausgeklammert worden."
Autorin Hess sagt über das Projekt: "Die Serie wirbt für Humanismus, Zivilcourage und Aufrichtigkeit dem eigenen Handeln gegenüber. Wir zeigen, wohin Rassismus und Antisemitismus im schlimmsten Fall führen können." In diesem Zusammenhang finde sie es wichtig zu betonen, dass die Menschen vor 80 Jahren "weder schlauer noch dümmer als heute" waren. Der Mensch sei letztlich immer gleich unzulänglich, beeinflussbar und oft angstgetrieben. "Das Lernen aus der Geschichte, das ist ein Effekt, der sich verliert über die Generationen", sagt Hess./bok/DP/zb
Quelle: dpa-AFX