»Hebi ni kamareta kuchi nawa ni ojiru« sagt ein japanisches Sprichwort. Übersetzt heißt das: »Wer von einer Schlange gebissen worden ist, wird vor einem Seil Angst haben.« Treffender lässt sich die derzeitige Situation vieler Börsianer wohl kaum beschreiben. Nach mehr als drei Jahren Baisse, diversen Pleiten, Bilanzskandalen und in sich zusammenschrumpfenden Aktiendepots trauen sich viele Anleger an neue Aktieninvestments nicht mehr heran. Zu groß ist einfach die Angst, noch mehr Geld zu verlieren. Die Folge dieser nur zu verständlichen Aktien-Aversion ist, dass viele Anleger die rasante Erholung der letzten Wochen verpasst haben.
Aktien sind per Definition Risikopapiere. Aber während in den Boomzeiten der Begriff Risiko von den Anlegern nahezu komplett ausgeblendet worden ist, hat er sich mittlerweile in den Köpfen derart festgesetzt, dass die vielfältigen Chancen von Aktien kaum mehr wahrgenommen werden. Und von denen gab es im laufenden Börsenjahr schon mehr als genug. Vor allem bei Aktien aus dem Technologiesektor waren Kursgewinne von 50 Prozent und mehr keine Seltenheit. Der führende Technologie-Index Nasdaq Composite notiert seit Jahresbeginn zehn Prozent im Plus, beim deutschen Börsenbarometer Dax sind es immerhin sieben Prozent. Und das trotz Irak-Krieg, SARS und aller konjunkturellen Unsicherheiten.
Der jüngste Börsenaufschwung kam für viele Börsianer ähnlich überraschend wie das jähe Ende der mehrjährigen Hausse vor exakt drei Jahren. Die heutige Situation ist - mit umgedrehten Vorzeichen - mit der von damals vergleichbar: Nach den ersten größeren Kursverlusten im Mai 2000 glaubten viele Anleger, es handele sich lediglich um eine Korrektur in einem bestehenden Aufwärtstrend. Die Wirtschaft lief unter Volldampf und die Anleger hatten sich an fortlaufend steigende Kurse gewöhnt.
Mittlerweile wissen wir, dass der Glaube an ständig steigende Kurse damals die Wurzel allen Übels war. Heute könnte sich andersherum die festgesetzte Skepsis gegenüber Aktien als Basis für eine nachhaltige Aufwärtsbewegung herausstellen. Denn mit der Zeit verheilen auch noch so kräftige Bisse von Schlangen.
Alfred Maydorn
Leitender Redakteur