Nach wie vor steht die Ukraine-Krise im Fokus der Anleger. Durch die angekündigte Waffenruhe scheint nun eine Entspannung der Lage möglich. Doch wie nachhaltig ist das Friedensangebot beider Seiten?
DER AKTIONÄR hat sich mit Andreas Männicke, einem Experten für Osteuropa, über die aktuelle Lage unterhalten. Männicke ist seit 1990 mit der Ausbildung von Wertpapierexperten und Finanzanalysten in Mittel- und Osteuropa beauftragt und schrieb als freier Wirtschaftsjournalist zahlreiche Fachbeiträge über die Entwicklung der Kapitalmärkte in Mittel- und Osteuropa.
DER AKTIONÄR: Herr Männicke, der ukrainische Präsident Petro Poroschenko verkündet eine Waffenruhe – doch der Kreml dementiert. Wie ist es einzuordnen, dass Russland nicht von einer Waffenruhe sprechen will?
Andreas Männicke: Poroschenko spricht einseitig von einem mit Putin „vereinbarten Waffenstillstand“, obwohl dieser der Auffassung ist, dass er persönlich gar keine Waffenruhe beschließen kann. Dabei befürwortet Putin einen Waffenstillstand und hat diesbezüglich auch einen 7-Punkte-Plan vorgeschlagen, um schnell eine Waffenruhe und Frieden in der Ost-Ukraine herbeizuführen. Er möchte, dass die Ost-Ukraine weiter zur Ukraine und nicht zu Russland gehört. Ihr soll aber eine weitgehende Autonomie eingeräumt werden.
Hätte eine Waffenruhe dann überhaupt Bestand?
Während Poroschenko von Waffenruhe spricht, wird zum Beispiel gerade der Flughafen von Donezk von den Separatisten eingenommen. Das ukrainische Militär zieht sich zurück, weil es Gefechte gegen die Separatisten verloren hat. Meines Erachtens gibt es noch keine Waffenruhe, erst recht keine, die mit Putin vereinbart ist. Oft wird eine Feuerpause auch benutzt, um Kräfte wieder zu sammeln und dann – unter beidseitige Schuldzuweisungen – neu anzugreifen.
Ist die Reaktion der Märkte berechtigt?
Hier hat die Börse mal wieder etwas voreilig reagiert. Ich erinnere hier an den 22. August als der DAX nach einer angeblichen Grenzüberschreitung Russlands um 200 Indexpunkte einbrach. Als sich dies als Falschmeldung herausstellte stieg der DAX am Folgetag wieder an. Ich empfehle hier Ruhe zu bewahren und erst mal abzuwarten, wie sich die Situation in der Ost-Ukraine faktisch darstellt.
Es wurde nun am Freitagnachmittag ins Minsk ein Waffenstillstand vereinbart, der ab 18.00 Uhr am 5. September Gültigkeit hat. Zur gleichen Zeit wurde aber durch die Separatisten versucht, Mariopol einzunehmen. Es bleibt dann allerdings die Frage, dass er auch dauerhaft beidseitig eingehalten und nicht im Hintergrund zum Aufrüsten genutzt wird. Bleibt es bei einem vereinbarten Waffenstillstand, wäre dies sehr positiv für die internationalen Aktienmärkte, insbesondere aber für den deutschen und russischen Aktienmarkt. Jede Form der Eskalation in der Ost-Ukraine nutzt den Aktienmärkten, jede Form der Eskalation schadet ihnen. Es ist aber an der Zeit, dass nicht mehr die „Militaristen“, sondern die gemäßigten Politiker das Sagen haben, auch in der Ukraine.
Wie beurteilen sie die Maßnahmen des Westens?
Ich halte jedenfalls die anberaumten Manöver von NATO-Soldaten im September in der West-Ukraine für falsch. Die Reaktion darauf werden doch ganz klar Manöver der Russen an der ukrainischen Grenze sein. Da kann bei einem falschen Schuss „aus Versehen“ auch mal schnell ein Weltkrieg entstehen. Die EU und die NATO haben schon beim EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine vermeidbare Fehler gemacht. Dabei ist viel Vertrauenskapital mit Russland kaputt gegangen. Der wichtige Partner Russland wird jetzt zum Feind hochstilisiert.
An der gegenwärtigen Eiszeit trägt die EU deshalb zumindest auch eine Mitschuld. Von der EU wird aber Putin für alles verantwortlich gemacht, was in der Ost-Ukraine passiert. Dabei wären sowohl der Einmarsch in der Krim als auch die aktuellen Ereignisse in der Ost-Ukraine vermeidbar gewesen.
Wie schnell werden verhängte Wirtschafts-Sanktionen jetzt überdacht?
Das ist genau die Frage, die sich die EU jetzt stellen muss. Die EU will Russland den Geldhahn abdrehen, vor allem im Banken und Energiesektor. Der Westen wäre meines Erachtens gut beraten, wenn sie zumindest den Friedengesprächen zwischen Poroschenko und Putin eine Chance geben, einen Waffenstillstand durch Gespräche herbeizuführen. Diese müssen dann aber auch mit den Separatisten geführt werden. Es wäre falsch, jetzt Sanktionen gegen Russland auszusprechen, die ohnehin nicht viel bringen. Im Gegenteil: Deutschland und Europa würden unter diesen ebenfalls leiden, auf Dauer vielleicht sogar mehr als Russland.
Wie sind die Auswirkungen auf russische Aktien wie Gazprom oder Sberbank, die zuletzt stark unter Druck standen?
Ich nehme an, dass das JoJo-Spiel in der Ost-Ukraine weitergeht. Bei jedem Anzeichen einer Deeskalation werden russischen Blue Chip steigen, bei jeder neuen Eskalation aber auch stark fallen. Das ist im Moment reine Spekulation und hat leider nichts mit Fundamentaldaten zu tun. Man sieht das auch an den Kursen: Seit der Krim-Annexion Mitte März stieg der RTS-Index um 35% und war damit einer der am besten performenden Aktienmärkte der Welt. Im Rahmen der Krim-Krise brach der russische Aktienmarkt aber zuvor auch um über 20% ein.
Sind auf dem russischen Markt wieder sorgenfreie Investments möglich?
Klar ist, dass der russische Aktienmarkt extrem unterbewertet ist. Hartgesottene Anleger sollten aber weitere Krisen-Situationen – wie ein mögliches Hochfahren der Sanktionen – abwarten, um dann noch preiswerter russische Aktien zu kaufen. Im Moment ist der russische Aktienmarkt ein sehr volatiler Trading-Markt, aber noch kein Investmentmarkt. Auch ukrainische Aktien werden nach einer politischen Übereinkunft sehr interessant, denn sie sind ebenfalls extrem unterbewertet.
Wie viel Angst müssen Anleger vor neuen Unruhen in Russland und der Ukraine haben?
Es kommt ganz darauf an, welche Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen und dann auch konkret ohne Militärgewalt umgesetzt werden. Am 26. Oktober 2014 sollen Parlamentswahlen in der Ukraine stattfinden. Wünschenswert wäre, wenn dann die militärisch sehr aktiven rechten Kräfte durch die Parlamentswahlen politisch zurückgedrängt werden, denn diese haben in der Ukraine viel Porzellan – ganz bewusst – zerschlagen.
Mir wird jedoch selbst angst und bange, wenn ich sehe wie die EU, die USA und die NATO im Moment vorgehen. Auch Putin könnte zur Deeskalation wesentlich mehr beitragen. Es geht dabei auch um den Weltfrieden und damit die berühmte Friedensdividende bei den Aktien, die sehr viel wertvoller ist als alles andere. Wenn die EU und Deutschland in einen wirtschaftlichen Dauerkonflikt mit Russland geraten, wird auch der deutsche Aktienmarkt darunter leiden – und umgekehrt.
Wir danken für das Gespräch.