Er hat rechtzeitig vor der Euro-Politik gewarnt und war Vertreter der deutschen Industrie. Wie ordnet Hans-Olaf Henkel die aktuellen Verwerfungen ein?
Professor Hans-Olaf Henkel war Chef von IBM Europa und bis Ende 2000 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Der Vater von vier Kindern hat ein grünes Herz („Ökomanager des Jahres“) und ist für seine klaren Worte bekannt. Wir haben bei ihm nachgefragt.
Gerade ist der IFO-Geschäftsklimaindex überraschend schlecht ausgefallen. Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels oder bleibt die Stimmung länger im Keller als nach dem Corona-Crash?
Hans-Olaf Henkel: Viel länger! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in den letzten 70 Jahren auf uns so viele Krisen auf einmal einstürzten: Klimawandel, Corona, Krieg und Energie.
Kann Nord Stream 2 eine Lösung sein?
Um Gottes willen! Das wäre so, als wenn wir einen Alkoholiker mit Wodka von seiner Abhängigkeit befreien wollten.
Viele fordern noch mehr Gelddrucken und noch mehr Staatseingriff. Hat Deutschland die Gründe für die Misere schon richtig analysiert?
Die Tür zum Gelddrucken wurde von Merkel und Schäuble im Mai 2010 durch den Bruch des Maastricht-Abkommens mit dem ersten Rettungspaket für Griechenland einen Spalt weit geöffnet. Jetzt ist es ein sperrangelweites Scheunentor. Ich habe damals in zahlreichen Talkshows, Reden, Artikeln und Büchern darauf hingewiesen, dass dadurch aus der sogenannten Stabilitätsunion zwangsläufig eine Schuldenunion werden muss.
Wieso sieht man Experten wie Sie oder Prof. Sinn, die rechtzeitig vor der Inflation gewarnt hatten und richtiglagen, aktuell wenig in solchen Talkrunden?
Statt Sinn bekommen Sie heute Fratzscher, also Ökonomen, die sich für das Gelddrucken der EZB, für noch mehr Schulden und mehr Umverteilung aussprechen. Da der Mehrheit das Wissen um ökonomische Zusammenhänge fehlt, haben es populistische Politiker und Ökonomen leicht, Dinge zu sagen die ankommen. Solche, die sagen, worauf es ankommt, haben es dagegen schwer.
Sehen Sie eine Chance, dass EZB-Chefin Lagarde das Ruder noch herumreißt?
Im Mai 2010 waren es vor allem Franzosen, die Merkel unter Druck setzten und mit der ersten sogenannten Griechenlandrettung aus dem Euro einen französischen Franc machten. Erinnern wir uns: Es waren der Staatspräsident Sarkozy, seine damalige Finanzministerin Lagarde, der damalige EZB-Präsident Trichet und der IWF-Präsident Strauss-Kahn, alles Franzosen, die Merkel und Schäuble damals unter Führung des Luxemburgers Juncker über den Tisch gezogen haben. Wobei man auch daran erinnern muss, dass deutsche Banker kräftig mitgezogen haben.
Trauen Sie der gelernten Juristin Lagarde zu, im komplexen Währungsspiel mit ausgebildeten Kräften aus China oder der Schweiz den Überblick zu behalten?
Ja, den Überblick hat sie bestimmt, die Frage ist nur, in welchem Interesse sie arbeitet. Was meinen Sie wohl, warum Macron von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin vorgeschlagen hat? Er hat sich damit ja nicht nur eine gewisse Loyalität von ihr gesichert, denn Merkel kam nicht auf diese Idee, er konnte dadurch auch eine Französin auf den viel einflussreicheren Posten in der EZB hieven.
Droht ein komplettes Aus der Euro-Währung?
Alle bisherigen Einheitswährungen sind gescheitert. Man kann den Euro langfristig nur retten, indem man eine wirkliche Fiskalunion herstellt. Dann haben alle für alles Verantwortung, das heißt, dass sie in Wirklichkeit niemand mehr hat. Wir befinden uns jetzt in einem System der organisierten Verantwortungslosigkeit. Ich drehe mal das Merkel’sche Diktum um: Scheitert der Euro nicht, scheitert Europa.
Erste Unternehmer wie der Trigema-Chef äußern öffentlich ihren Unmut über die Energiepreisexplosion und Sanktionspolitik – seitens der großen Industriekonzerne vernimmt man wenig. Wieso?
Die überwältigende Mehrzahl deutscher CEOs weiß genau, was wirtschafts- und sozialpolitisch geschehen müsste, aber sie ist es satt, von rot-grün angehauchten Moderatoren und sozialpopulistischen Gästen in eine Ecke gedrängt zu werden. Hier sind wir beim medial-politischen Teufelskreis in Deutschland. Sogar der BDI wird kaum noch als Stimme wirtschaftspolitischer Vernunft wahrgenommen.
Sie hatten 2018 gesagt, die Politik von Merkel habe die Briten aus der EU getrieben. Wie viel Anteil hat die Politik, dass mittlerweile in Schweden oder Italien rechtskonservative Parteien Mehrheiten stellen?
Dass die Weigerung Merkels und Junckers dem britischen Premier Cameron beim Thema Immigration etwas entgegenzukommen, zum Brexit entscheidend beigetragen hat, erzählten mir damals alle britischen Kollegen in meiner Fraktion im Europäischen Parlament. Dass das Thema „Immigration“ sowohl in Schweden als auch in Italien zum Erfolg der Rechtskonservativen beigetragen hat, ist ganz offensichtlich. Übrigens auch bei uns.
Glauben Sie an ein „Happy End“ bei der Energieversorgung?
Ich hoffe es, eine Laufzeitverlängerung für ein paar Monate mag im kommenden Winter etwas Druck aus dem Kessel nehmen, aber wenn wir langfristig unsere Klima- und Versorgungsziele erreichen wollen, kommen wir um Renaissance für die Kernkraft nicht herum
Ist ein Taiwan-Angriff von China wahrscheinlich?
Ich glaube nicht. Die chinesische Regierung handelt rationaler, plant langfristiger als Putin. Außerdem lernt sie gerade am Beispiel der Ukraine, dass man sich auch mit einer vermeintlichen Übermacht mit einem Angriffskrieg selbst großen Schaden zufügen kann. Für mich ist das ein weiterer strategischer Grund, sich für die Ukraine mit Waffenlieferungen zu engagieren.
Wie lange kann die Rezession andauern?
Ich glaube, dass es nach einem Ende des Krieges in der Ukraine sogar schneller wieder bergauf gehen kann als bei uns nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Fall war.
In welche Länder und Asset-Klassen würden Sie derzeit investieren?
In den USA und mit Ausnahme von Großbritannien in allen anderen angelsächsischen Ländern. Und in Aktien, für mich immer noch langfristig der beste Schutz gegen die Inflation.
Was ärgert Sie in diesen Tagen am meisten?
Das anmaßende Moralisieren und das arrogante Gendern einiger Nachrichtensprecher.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Dass sich die Globalisierung und mein „Sympathisches Dreieck“ trotz aller Rückschläge wacker schlagen. Es gibt heute erstens mehr Länder mit einem marktwirtschaftlichen System, zweitens mehr Demokratien und drittens mehr Länder, die die Menschenrechte achten als je zuvor in der Menschheitsgeschichte.